Poppenspael
zutiefst überzeugt,
ist noch immer der wichtigste. Je unvoreingenommener er als
neutraler Außenstehender die vorhandenen Spuren wahrnehmen
kann, umso präziser kann er später die Handschrift des
Einbrechers bestimmen.
Das ist nun bereits
der achte Einbruch in dieser Gegend, spricht er zu sich selbst. Es
deutet einiges darauf hin, dass der Täter die
Örtlichkeiten genau kennt. Aber ist das wirklich so? Er
scheint ohne Umschweife auf die Terrassentür zugesteuert zu
sein. Zufall, oder sagt uns das schon, dass er sich hier auskannte?
Die Villa ist von außen kaum einzusehen, das macht es schwer,
sie vorher auszukundschaften.
Sein inneres Frage-
und Antwortspiel stoppt abrupt. Ihn beschleichen Zweifel, ob seine
Beurteilung der Wirklichkeit nicht viel zu stereotyp
gerät.
Swensen, du
beschäftigst dich doch nur mit deiner Sichtweise, willst dir
wohl mal wieder beweisen, dass dein ICH auch wirklich
existiert.
In solchen Momenten
erinnert er sich fast immer an die Zeit, als er vor jetzt 28 Jahren
sein Philosophiestudium in Hamburg hinschmiss und sich für
drei Jahre in einen tibetischen Tempel in die Schweiz absetzte, um
das Meditieren zu lernen. Ehe er sich versah, wurde sein bis dahin
fest gefügtes Weltbild gründlich auf den Kopf gestellt.
Während er noch Descartes Satz ›Ich denke, also bin
ich‹ hinterherhing, lehrte Lama Rhinto Rinpoche ihn das
krasse Gegenteil: ›Ich denke, also bin ich nicht‹.
Ungläubig versuchte er, sich an die Kernaussage des
tibetischen Buddhismus heranzutasten.
»Die Erscheinung
der Dinge, dazu gehört das eigene ICH, besteht aus dem Dharma,
dem Zusammenspiel des Daseins«, lehrte der Meister bei seinem
ersten Einzelgespräch, dem traditionellen Dokusan. »Alle
Dinge der Welt sind dementsprechend im Kern leer und nur eine
Illusion deiner Sinne.«
»Das glaube ich
nicht«, hatte Swensen gegen die befremdliche Auffassung
rebelliert. »Wenn alles, was ich da draußen sehen kann,
in Wirklichkeit nur leer wäre, würde es ja so was wie
eine Realität überhaupt nicht geben. Ich kann mir das
alles doch nicht nur einbilden?«
»So solltest du
meine Worte nicht verstehen!«, entgegnete Meister Rinpoche
ruhig und drehte bedeutungsvoll den Kopf zur Seite. »Wenn ich
sage, die Dinge sind leer, meine ich nicht, sie wären nicht
existent. Leer sein besagt nur, dass jede Erscheinung ohne
Eigennatur ist und sie deshalb nicht so bleibt, wie sie ist,
sondern vergänglich ist. Wir können die Dinge der Welt
mit unseren Sinnen nur subjektiv erfassen, trotzdem haben sie eine
Realität. Wir haben täglich mit ihnen zu tun, und wir
müssen mit dieser Realität fertig werden. Aber dass Alles
ist, zeigt nur eine Seite unseres Daseins. Die andere Seite besagt,
dass Alles nicht ist. Unsere Aufgabe ist es, den eigenen Weg
zwischen diesen beiden Polen zu finden.«
Swensen sieht die
kleine, hutzlige Gestalt seines Meisters vor seinem inneren Auge,
sieht den immer fröhlichen Ausdruck auf seinem runden Gesicht,
den ewig milden Blick der braunen Augen und muss unwillkürlich
lächeln. Erst nach vielen Jahren in seinem Beruf als
Kriminalkommissar ist nur ein Hauch des gelebten Gleichmuts von
Lama Rinpoche in seinen Arbeitsalltag
eingedrungen.
Das ist ein wichtiger
Grund, warum der Kriminalist heute möglichst kritisch mit
seinen fünf Sinnen umgeht, dem ersten Blick nicht traut. Er
muss daran denken, dass seine Kollegen schon öfter versucht
haben, ihm einen sechsten Sinn anzudichten. Das amüsiert ihn
jedes Mal, zumal die Buddhisten dem Menschen schon immer einen
sechsten Sinn zugesprochen haben, nämlich das
Denken.
Swensens Augen
streifen gründlich über das breite Blumenbeet, das die
Terrasse von der Rasenfläche trennt. Trotz der langen
Trockenphase in diesem Monat sehen die Pflanzen gepflegt aus. Neben
den Sommerblumenrabatten wird er fündig, ein prachtvoller
Schuhabdruck. Das Riffelmuster der Sohle ist überdeutlich in
die fette Erde eingestanzt.
»Jan! Bist du
noch da draußen?«, ruft eine laute Stimme aus dem
Innern der Villa. Bevor Swensen antworten kann, steht sein Kollege
Stephan Mielke im Rahmen der Terrassentür. Das kantige Gesicht
des Oberkommissars ist von kräftigen Backenknochen
geprägt. Seine schwarzen Haare sind wie immer extrem kurz
geschnitten zu seiner typischen Bürstenfrisur, und er riecht
penetrant nach ›Russisch Leder‹.
»Ich mach mich
auf die Socken und marschier los zum Klinkenputzen. Vielleicht hat
in der Nachbarschaft zufällig jemand etwas
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