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Poppenspael

Poppenspael

Titel: Poppenspael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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ein
arrogantes Arschloch ist und sich in so ’nem noblen Bau
einmieten kann, ist mit Sicherheit flüssig. Die Journalistin
beißt sich auf die Lippen. Innerlich quält sie die
Frage, warum sie Think Big nicht sofort auf den Mond geschossen
hat.
    »Darf ich Ihnen
jetzt vielleicht ein paar Fragen stellen, Herr
Šemik?«, beginnt sie und versucht, ihre Süffisanz
aus der Stimme zu nehmen. »Meines Wissens sind Sie kurz nach
dem Zweiten Weltkrieg in Prag geboren. In der Tschechoslowakei gab
es schon immer große Puppenspieler. Ich denke da nur an Jan
Malik. Warum sind Sie trotzdem nach Deutschland
gegangen?«
    »Liebe Frau
Teske, bevor Sie wahllos in der Gegend herumspekulieren, wäre
es gut, sich im Vorfeld zu informieren. Am 21. August 1968
marschierten die Truppen der Sowjetunion, Polens, Ungarns und
Bulgariens in der Tschechoslowakei ein und beendeten den Reformkurs
des Prager Frühlings. Ich war damals 17 Jahre alt, hatte
vorher den verfemten Kafka gelesen und fürchtete, von den
Ideologen des Kommunismus abermals am freien Denken gehindert zu
werden.«
    1968, da war ich
gerade eineinhalb Jahre alt, denkt Maria Teske und beißt die
Zähne zusammen. Jetzt nur nicht unfreundlich werden. Wenn ich
ohne Interview in der Redaktion erscheine, flippt Think Big
garantiert aus.
    »Sie spielen
dieses Jahr ein neues, unbekanntes Stück: ›Ursache und
Wirkung‹ oder ›Seba, das Schaf im Wolfspelz‹.
Woher bekommen Sie die vielen Ideen zu Ihren
Stücken?«
    »Woher die Ideen
kommen? Welch eine Frage. Die fallen nicht vom Himmel, das ist
harte Arbeit. Ich schreibe alle meine Stücke natürlich
selbst! Das hat den Namen Wiktor Šemik unverwechselbar
gemacht. Ich bin jemand, der sich nichts aus der Hand nehmen
lässt, alle Stücke sind von mir, alle Kulissen habe ich
entworfen, ich gestalte die Puppen und spiele sie auch noch
persönlich. Kaum ein Puppenspieler beherrscht das in der
Perfektion wie meine Person!«
    »Was kann
Puppentheater dem heutigen Publikum noch bieten?«
    »Ihre Frage
klingt mir zu abfällig, Frau Teske! Alle meine Puppen sind
großartige Schauspieler, sie sind eigenständige
Charaktere. Nehmen wir zum Beispiel das kleine Schaf Seba, das Sie
eben erwähnten. Hinter dessen Charakter verbirgt sich ein
tiefer seelischer Schmerz, der Schmerz, von den anderen nicht
gemocht zu werden. Seba pendelt zwischen Ohnmachtsgefühlen und
Machtgelüsten. Der heimtückische Wunsch, es allen
Peinigern heimzuzahlen, wird daraus geboren. Das ist Rache im
klassischen Sinne! Etwas, womit alle Menschen in jedem Moment
konfrontiert werden können! Das Publikum lernt also im Laufe
meines Stückes, dass Rache etwas Schreckliches ist, bei der am
Ende nur alle verlieren. Mehr hat selbst Shakespeare nicht zu
bieten, oder finden Sie nicht?«
    *
    Die Fensterfront im
Raum der psychologischen Praxis von Anna Diete reicht von einer
Wand bis zur anderen. Vor zwei Wochen hatte sie die Raufasertapete
mit einem aufgehellten Neapelgelb überstrichen. Immer noch
eine gute Entscheidung, findet sie, denn die neue Farbe taucht den
großzügigen Raum nicht nur bei Sonnenschein in ein
angenehm warmes Licht. Bilder hat sie keine an der Wand, die
könnten ihre Klienten nur unnötig beeinflussen. Links
neben dem hölzernen Schreibsekretär stehen zwei bequeme
Sessel, dazwischen ein kleiner, runder Tisch aus
Kiefernholz.
    Die Psychologin hat
sich wie gewöhnlich mit dem Rücken zum Fenster gesetzt,
während für die Klientin vom Sessel aus der freie Blick
in den Garten möglich ist. Eine Gruppe Apfelbäume schirmt
vor Blicken von außen ab. Dahinter ist die St. Marienkirche
zu sehen, dessen romanisch-gotisches Ziegelgebäude mit dem
schmalen, spitzen Turm Anfang des 18. Jahrhunderts erbaut
wurde.
    Petra Ørsted
starrt seit längerer Zeit aus dem Fenster, ohne ein Wort zu
sagen. Das ovale Gesicht zeigt keine Regung. Ihr schwarzes, streng
nach hinten gekämmtes Haar wird im Nacken von einer
Plastikspange aus mattbraunem Schildpatt
zusammengehalten.    
    Der Turm sieht wie
eine riesengroße Stecknadel aus, denkt sie, spürt feine
Nadelstiche in der Schläfe und zuckt kurz zusammen. Sie bewegt
den Kopf leicht nach links und rechts. Automatisch ziehen sich die
Schultern hoch.
    Ein schwieriger Moment
für die Psychologin. Eine länger anhaltende Stille
verführt schnell zu voreiliger Intervention. Anna Diete wartet
geduldig ab. Gerade in diesem Moment scheint es ihr angebracht, den
inneren Prozess ihrer Klientin nicht zu unterbrechen. Nach weiteren
Minuten

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