Poppenspael
Stille richtet Petra Ørsted sich unvermittelt auf.
Ihre Hände packen die Armlehnen, das Gesicht wird rot und
Falten zerfurchen die Stirn.
»Egal, was ich
mache, ich sitze immer zwischen den Stühlen!«, platzt es
aus ihr heraus. »Dabei wollte ich nie in solche Umstände
geraten wie meine Mutter. Ich hab mir damals geschworen: Wenn du
mal eine Familie hast, machst du alles besser. Und jetzt? Jetzt leb
ich in der gleichen Katastrophe. Mein Mann ist auf den ersten Blick
zwar völlig anders als mein alter Herr, aber im Grunde steckt
in ihm der gleiche Loser.«
»Wieso findest
du, dass dein Vater ein Loser war?«
»Weil er,
solange ich zurückblicken kann, nie irgendetwas auf die Reihe
gekriegt hat. Aus jeder Arbeit ist er spätestens nach einem
halben Jahr rausgeflogen. Finanziell war es bei uns zu Hause ein
nie enden wollendes Desaster. Wie oft hab ich nachts in meinem Bett
gehört, dass meine Eltern sich ums Geld gefetzt haben. Meine
Mutter musste arbeiten gehen, der feine Herr saß derweil im
Wohnzimmer rum und hat nur ferngesehen. Später dann, als er
sich selbstständig machte und ein Fahrradgeschäft
eröffnet hat, ist alles noch viel schlimmer geworden. Das Geld
wurde nur noch zum Fenster hinausgeworfen. Jahrelang lebte er auf
großem Fuß, ging ohne Rücksicht auf Verluste
fremd, bis meine Mutter vor Gram gestorben ist. Und am Ende stellte
sich heraus, dass dieser ganze luxuriöse Lebensstil die ganze
Zeit nur auf Pump finanziert war.«
Petra Ørsted
presst die Lippen fest zusammen. Tränen schießen ihr in
die Augen.
»Was fühlst
du?«, fragt Anna Diete.
»Wut! Eine
Stinkwut!«
»Bleib da, bleib
bei dem Gefühl!«
»Nein! Ich will
das nicht fühlen«, sagt Petra Ørsted gepresst und
schlägt die Hände vors Gesicht. Mehrere Minuten schluchzt
die Klientin hemmungslos vor sich hin, zieht ein Papiertaschentuch
aus dem Spender neben dem kleinen Wecker und wischt die Augen
trocken. »Wieso fühl ich mich so schlecht?« Sie
guckt an die Decke und ihre Stimme wird schrill. »Ich hab
einfach keine Lust mehr, immer den ganzen Schlamassel meines Vaters
abzubekommen.«
»Was bekommst du
denn ab?«
»Mein Bruder hat
mir gestern in der Stadt aufgelauert und mir die Ohren
vollgejammert.«
»Dein
Bruder?«
»Bis gestern
noch hab ich geglaubt, dass er in meinem Leben keine Rolle mehr
spielt. Er war abgehakt, mein kleiner Bruder, ein Versager wie mein
alter Herr. Nachdem er aus unserem Elternhaus ausgezogen war, hat
er keinen Tag mehr in geordneten Verhältnissen gelebt, hat nur
getrunken und ständig seine Arbeitsstelle gewechselt. Vor zwei
Jahren wurde er vom Geld meines Vaters geblendet, als der ihm einen
Job in seinem Fahrradgeschäft verschafft hat. Von da an
glaubte er, alle seine Sorgen wären vorüber. Und als der
alte Herr starb, wollte er den Laden allein weiterführen. Ich
hab ihn eindringlich gewarnt, bloß nicht dieses Erbe
anzutreten. Jeder Blödmann konnte aus den Papieren ersehen,
dass alles haushoch verschuldet war. Das ist wie in dem
Märchen ›Bulemanns Haus‹, hab ich ihm gesagt, da
gucken die Mäuse zum Fenster hinaus. Er wurde richtig
wütend, hat mich angemacht, ich wolle ihn nur um sein Erbe
bringen. Am Ende hab ich auf meinen Erbteil verzichtet, und er hat
treudoof den gesamten Schuldenberg übernommen. Seitdem lebt er
von Sozialhilfe. Soweit ich weiß, hat er keinen festen
Wohnsitz mehr. Wahrscheinlich treibt er sich mit irgendwelchen
Pennern auf der Straße
rum.«
»Und nun ist er
wieder in dein Leben getreten.«
»Er hat in
meinem Leben nichts mehr zu suchen! Gestern wollte er auch nur mal
wieder eine größere Summe Geld von mir leihen. Ich
bekäme das Doppelte und Dreifache zurück, hat er mich
angefleht. Ein Kumpel hat ihm ein tolles Angebot für einen
Laden gemacht. Damit würde er es schaffen. Ich hab versucht,
ihm klarzumachen, dass er von mir nichts mehr zu erwarten hat.
Darauf drohte er mir unverblümt, das würde ich noch mal
bereuen.«
»Wie geht es dir
damit?«
»Ziemlich
schlecht, glaube ich.« Petra Ørsted schaut ihre
Psychologin verunsichert an. Sie sitzt eine Weile schweigend da und
schaut zum Kirchturm hinüber. »Wieso fühl ich mich
nur so schlecht? Ich bin doch nicht dafür verantwortlich, wenn
mein Bruder in seinem Leben nicht zurechtkommt.«
»Du scheinst
dich aber verantwortlich zu fühlen.«
»Ich kann meinen
Bruder doch nicht einfach fallen lassen!«
»Wer sagt dir,
dass du das musst? Es ist deine Entscheidung, ihm zu helfen oder
nicht.
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