Poppenspael
Es geht an fächerförmigen Wehlen vorbei,
Wasserflächen, die das Meer in der Vergangenheit nach
Deichbrüchen ausgespült hat. Silvia Haman schleicht
durchs Dorf und stoppt den Polo vor einem großen
Backsteinhaus.
»Das mit deinen
Schwestern war ’ne miese Anmache. Entschuldigung, kommt nicht
wieder vor!«
»Angenommen!«
»Okay, kriegen
wir uns ein und bringen den Rest hinter uns!«
Ȇbrigens,
das mit dem Nahrungsergänzungsmittel war ein simpler
Zufall«, lenkt Stephan Mielke ein. »Denk nur an den
ersten Termin in Simonsberg. Dort stand die gleiche Pappdose auf
dem Küchentisch. Vielleicht nur Zufall, aber es kann nicht
schaden, bei allen Opfern nachzuhaken, ob sie auch
Nahrungsergänzungsmittel beziehen.«
*
Ein mächtiger
Gewitterschauer hat die graue Stadt am Meer mit einem nassen Film
überzogen. Das Kopfsteinpflaster im Schlosshof glänzt,
als wäre jeder einzelne Stein mit Glanzlack überzogen.
Die Turmuhr steht auf 19.22 Uhr. Es dämmert bereits, und die
Schlossanlage wird vom Licht einiger Scheinwerfer angestrahlt. Vor
dem Haupteingang sammeln sich die Menschen und bilden eine
größere Traube. Bei dem Anblick verspürt Ronja
Ahrendt leichte Panikattacken, ihr wird heiß und es kribbelt
im Magen. Vermutliche Diagnose: Lampenfieber. Die Krankenschwester
streckt den Rücken gerade, zieht den Bauch ein und schreitet
entschlossen durch die Ansammlung hindurch. Freudige Erregung
gepaart mit Angstschüben sind ihr eigentlich fremd. Aber heute
ist alles anders, bei der offiziellen Eröffnung der
Pole-Poppenspäler-Tage soll sie das erste Mal als Rednerin vor
das Publikum treten.
Die letzten Tage hatte
sie immer mal wieder versucht, die passenden Worte aufs Papier zu
bringen, doch meistens kam sie über die Begrüßung
›Guten Abend, meine Damen und Herren‹ nicht hinaus.
Der Boden bei ihr zu Haus war mit zerknülltem Papier
übersät. In ihrer Verzweiflung hatte sie die nagelneue
Flamme vom Seelenfaden-Puppentheater angerufen. Peter bot gleich
an, ihr zu helfen und deutete nebenbei an, der Assistent hätte
den ganzen Nachmittag frei. Sie trafen sich auf der Bühne im
leeren Rittersaal. Hinter dem herabgelassenen Vorhang stolzierte
Peter wie ein Rad schlagender Pfau, den Kopf nach hinten gelegt, in
den Kulissen von ›Bulemanns Haus‹ hin und her und
diktierte aus dem Stegreif eine Eröffnungsrede, die sie nur
noch ins Reine schreiben musste.
»Erst die Arbeit
und dann das Vergnügen«, turtelte er danach mit
verschmitzter Stimme und drückte seinen Körper von hinten
an ihre Rundungen. Die Hände packten ihre runden Brüste.
Sie zog ihn mit sich zu Boden.
Vor ihrem inneren Auge
blickt sie in die weit aufgerissenen Augen ihres Puppenspielers,
sieht die Gier in den bernsteinfarbenen Pupillen, während sie
rhythmisch, im Takt seines keuchenden Atems, die Holztreppe zum
Rittersaal hinaufsteigt. Oben angekommen, haben sich die Bilder der
Lust verabschiedet, und sie wird von ihrem Lampenfieber eingeholt.
Vor der noch geschlossenen Eingangstür stehen einige Personen
mit Sektgläsern in der Hand. Am Kassentisch steht eine kleine,
fast magere Frau mit spitzem Gesicht und Stupsnase, kassiert das
Geld für die Getränke und die letzten Eintrittskarten.
Ihr langer Rock ist mausgrau, dazu eine weiße Spitzenbluse.
Die roten Ohrringe verleihen dem biederen Erscheinungsbild den
einzigen Farbtupfer. Ronja Ahrendt weiß nicht, wer die Frau
ist, doch etwas sagt ihr, das muss Antonia Rebinger sein. Zumindest
passt die Beschreibung von Susan eindeutig zu ihr. Der
Krankenschwester fällt ein Stein vom Herzen. Diese Rebinger
ist nicht die Rebinger, die sie aus dem Hotel an der Ostsee
kennt.
Dann hat die Keck auch
nichts gesteckt bekommen, denkt sie erleichtert.
Ronja Ahrendt hat noch
76 Stunden zu leben.
»Ronja! Hallo,
Ronja«, hört sie im selben Moment eine Stimme hinter
ihrem Rücken. Sie schaut über die Schulter und sieht die
Vorsitzende des Fördervereins Hanna Lechner von einem der
Büchertische herüberwinken. Noch bevor Ronja Ahrendt
beschließen kann, zu ihr hinüberzugehen, ist die
stämmige Frau schon herbeigeeilt, legt ihr loyal eine Hand auf
die Schulter und schiebt sie mit Nachdruck nach rechts in den
langen Flur, weg vom Trubel im Eingangsbereich.
»Ich hab den
ganzen Nachmittag versucht, dich zu erreichen«, sagt die
Lehrerin. Die Krankenschwester merkt an der gequälten Stimme,
dass etwas im Busch ist.
»Ich war nicht
zu Hause, hab im Schlosspark an der Rede
gebastelt.«
»Ach ja,
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