Poppenspael
die
offensichtlich von seinen Gedanken blockiert wurden.
»Du sollst nicht
denken, Marcus. Es reicht, wenn du spontan herumspielst. Vergiss
einfach jeden Sinn und Zweck.«
Du bist Physiker,
dachte er. Und was steckt in der gesamten Physik? Die
Wellenfunktion!
Er begann zaghaft,
seinen Arm auf und ab zu bewegen, schickte mit den Fingern
wellenförmige Impulse den Faden hinunter. Die tote Materie
wurde augenblicklich lebendig. Das weiße Tuch schnellte erst
mit einem Ruck in die Höhe, überschlug sich, um sich dann
im nächsten Moment zu kringeln. Er ließ es abheben, in
sanften Schwüngen durch die Luft fliegen. Es war
plötzlich kein Tuch mehr. Der Luftwiderstand breitete es aus,
verwandelte es in einen Vogel, einen Albatros, der mühelos
über ein imaginäres Meer schwebte, unabhängig von
jeder äußeren Einwirkung.
»Was ihr hier
alle seht, ist die wichtigste Lektion für einen
Puppenspieler«, beschwor der Professor. »Um ein
Lebewesen entstehen zu lassen, braucht ihr keine detaillierte
Nachbildung davon. Beim Zuschauer entsteht einzig durch die Art
eurer Darstellung eine Vorstellung davon. Ihr könnt das Tuch
jederzeit in einen Vogel oder in einen Hund verwandeln. Eure
Bewegungsimpulse machen aus der Materie jedes x-beliebige
Geschöpf. Ihr könnt einem Stück Tuch eine Seele
einhauchen.«
»Sie waren
einmal Physiker?«, hört er die Singstimme
fragen.
»Ja, aber nur
kurze Zeit«, antwortet er, ohne den Blick von ihr zu
lassen.
»Und jetzt sind
Sie Puppenspieler! Wie passt denn das zusammen?«
»Gar nicht, Frau
Biehl. Höchstens, dass beides mit einem ›P‹
anfängt. Darf ich fragen, was Sie so machen?«
»Ich bin bei der
Kriminalpolizei.«
»Bei der
Kriminalpolizei, wirklich?«
»Keine Angst,
ich jage keine Mörder. Ich arbeite nur im Sekretariat. Das
heißt, ich koche meistens den Kaffee für die Guten,
damit sie die Bösen fangen können.«
»Kaffee ist
immer gut!«, bringt Bender mit etwas Mühe heraus.
»Wir könnten vielleicht auch einen Kaffee trinken
gehen.«
»Und wenn Ihr
Kollege in der Zwischenzeit kommt?«, säuselt sie
zurück.
»Ich hänge
einen Zettel an die Tür, dass wir gleich zurück
sind.«
»Natürlich
gehst du einen Kaffee trinken!«, ruft eine Stimme dazwischen.
Die Köpfe von Susan Biehl und Marcus Bender schnellen synchron
herum.
»Ronja?«
Susan starrt ihre Freundin entgeistert an. »Was machst du
denn hier?«
»Ich seh euch
nur ein wenig beim Turteln zu, meine Liebe«, erwidert Ronja
Ahrendt und zwinkert ihr auffällig mit dem rechten Auge zu.
»Ich hab Petra getroffen. Die hat mir erzählt, dass du
hier für sie eingesprungen bist.«
»Das ist Marcus
Bender, der Puppenspieler aus Hamburg!«, stellt Susan vor.
»Ronja Ahrendt! Sie gehört mit zu den Organisatorinnen
des Festivals.«
Ȇbrigens
’ne Klasse Idee, das mit dem Kaffee, Herr Bender«,
plappert Ronja Ahrendt drauflos. »Es ist gut, wenn jemand
Susan ein wenig unter die Fittiche nimmt, sie ist nämlich
gerade wieder solo!«
»Stimmt doch gar
nicht!«, säuselt Susan, wird puterrot und zieht ihre
Freundin energisch zur Seite.
»Was hast du
denn? Ich bin nur für klare Verhältnisse, meine
Liebe!«
»Klare
Verhältnisse? Das musst gerade du sagen!«, flüstert
Susan wütend.
»Ich geh denn
mal raus! Vielleicht ist mein Kollege bereits in Sicht«, sagt
Marcus Bender und eilt fluchtartig auf den Hof hinaus.
»Mach die Augen
auf, Susan! Der Typ hat ein Auge auf dich geworfen, das kannst du
doch nicht übersehen!«
»Was ich im
Moment überhaupt nicht brauche, ist eine neue
Beziehung!«
»Bist du dir da
ganz sicher? Ich nehm dich beim Wort, Susan! Der Typ ist
nämlich richtig schnuckelig – und so herrlich
unbeholfen, da steh ich voll drauf, ehrlich!«
»Ich finde, du
hast ein echtes Problem mit Männern, Ronja!«
»Finde ich gar
nicht! Wenn es ein Problem gibt, dann haben Männer ein Problem
mit mir!«
*
Herbert Ketelsen steht
an der Kaimauer und schaut in Richtung Seeschleuse. Er muss die
Augen zusammenkneifen, die Sonne blendet. Der Mann dreht den Kopf
zur Seite und zieht sein Sonnenbrillen-Clip aus der Brusttasche der
Anzugjacke. Mit dem Zeigefinger drückt er sie auf sein
Brillengestell. Jetzt ist das grelle Licht erträglich, und er
kann erkennen, dass es dort draußen noch nichts zu sehen
gibt. Der lettische Getreidefrachter ist überfällig,
wurde für eine halbe Stunde früher angekündigt. An
der Wetterlage kann es nicht liegen, auch draußen auf See
soll es genauso aussehen. Der Wind
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