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Poppenspael

Poppenspael

Titel: Poppenspael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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sie
unerträglich. Nicht nur, weil sie in Bayern geboren wurde,
hält sie Edmund Stoiber für den besseren
Kanzlerkandidaten, sie braucht nur an die peinlichen Bilder des
Elbehochwassers zu denken, als dieser Schröder im letzten
Sommer mit Gummistiefeln und grüner Regenjacke fernsehgerecht
durch das zerstörte Grimma stapfte und diesen
leichtgläubigen Ossis die größte Wiederaufbauaktion
in der Geschichte der Bundesrepublik versprach. Und jetzt wollen
ihn diese Frustrierten doch tatsächlich alle wählen.
Hanna Lechner findet es daher auch völlig richtig, dass Edmund
Stoiber vor Kurzem erbost feststellte, dass der Osten nicht
bestimmen dürfe, wer in Deutschland Kanzler werden
darf.
    ›Der Weg ist
klar – aufwärts‹, prangt in schwarzen Buchstaben
auf dem großen Wahlplakat, das auf einer Verkehrsinsel an der
Adolf-Bütt-Straße steht. Edmund Stoiber mit randloser
Brille vor der Kuppel des Bundestages.
    Ihr kommen die vielen
Brillenschafe in den Sinn, die sie aus ihrer Jugendzeit in Bayern
kennt, deren schwarze Pigmentierung um die Augen ihnen den Anschein
gibt, als würden sie eine Brille tragen. Die Herde ihres
Vaters Alois weidete im Sommer auf den Berghängen um Pitzling,
und sie durfte ihn einmal im Jahr dort oben besuchen. Die Wochen in
der Natur waren die glücklichste Zeit in ihrem Leben. Mutter
Luise war im Gegensatz zu ihrem Vater sehr streng. Sie ließ
keinen Schlendrian zu und verlangte, dass sie sich unentwegt auf
dem kleinen Bauernhof nützlich mache. Nur in den alten
Büchern, die ihr verstorbener Großvater hinterlassen
hatte, konnte sie der Enge entfliehen und ferne Welten entdecken,
irgendwo da draußen, weit weg von Pitzling. Wenn sie erst
groß wäre, würde sie dort hingehen.
    Der Dorfschullehrer
entdeckte ihr besonderes Talent für die deutsche Sprache. Er
redete den Eltern ins Gewissen, ihr Kind auf eine höhere
Schule zu schicken. Sie durfte zu ihrer Tante nach München und
studierte nach dem Abi an der Ludwig-Maximilians-Universität
Pädagogik. Die Stadt bereitete sich gerade auf die kommende
Olympiade vor und sprudelte vor Leben. Auf der Leopoldstraße
verkauften langhaarige Straßenkünstler Bilder. Im Big
Apple tanzte die Jugend bis in den frühen Morgen. Im
Zirkus-Krone-Bau spielten ›Blood, Sweet & Tears‹,
Leonard Cohen und ›Pink Floyd‹. Die Schwabinger 7 war
der Treffpunkt der Studenten. Hier lernte sie Sik kennen, einen
quirligen, lebensfrohen Menschen, der sich mit seinen
Schauspielkollegen hier fast jeden Abend auf ein Altbier traf. Sie
wusste nur, dass er sich mit Straßentheater über Wasser
hielt und einen merkwürdigen Akzent hatte. Sie tippte, dass er
aus Jugoslawien, Ungarn oder Bulgarien käme, jedenfalls
irgendwo aus dem Ostblock. Aber jedes Mal, wenn sie ihn
bedrängte, lachte Sik nur, wollte partout nicht verraten,
welcher Landsmann er war. Ihre Liebe war kurz und heftig und
dauerte nur einen Sommer, 1969 während der Hippiezeit, der
berühmte ›Summer of Love‹. Er spielte für
sie den verliebten Romeo, nannte sie nur seine Julia, und sie las
ihm selbstverfasste Gedichte und Geschichten vor. Im Herbst wurde
sie schwanger, und er verschwand auf Nimmerwiedersehen.
    Hanna Lechner
spürt einen tiefen Schmerz, wenn sie daran denkt. Die uralten
Bilder treiben oft wie ein Gewitter durch ihren Kopf, türmen
sich zusammen und zucken grell in ihren Träumen.
Plötzlich fällt ihr das Gehen schwer, als würde sie
ihre Vergangenheit hinter sich herschleifen. Sik hat ihr das Herz
gebrochen, und sie hat es nie verkraftet. Nie wieder schaffte es
ein anderer Mann bis in ihre Nähe, nur ihr Sohn, den sie unter
Entbehrungen großgezogen hat. Aber auch er hat sie
alleingelassen, wollte eines Tages nichts mehr mit ihr zu tun
haben. Das brach ihr das Herz zum zweiten Mal, sie wollte nur noch
weg, weit weg, und floh aus der vertrauten Heimat in den hohen
Norden.
    Die tiefe Trauer ist
selbst nach all den langen Jahren immer noch bedrohlich und
mächtig in ihr. Sie versucht, die alten Erinnerungen zu
ignorieren, bekommt aber schlagartig starke Kopfschmerzen. Ihre
Finger suchen in der Handtasche nach einer Aspirin, drücken
die Pille aus der Verpackung und führen sie zum Mund.
Während sie durch ein Spalier von Plakatständern auf den
Eingang der Schule zugeht, schluckt sie die Tablette trocken
hinunter.
    ›Wählen
Sie Optimismus.‹
    ›Zeit für
Taten.‹
    ›Arbeit gerecht
verteilen.‹    
    ›Außen
Minister, innen grün.‹
    ›Gerechtigkeit
weltweit.‹
    In der Aula

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