Poppenspael
Kollege freudig. »Die Welt ist wirklich
klein!«
Sie bemerkt, dass er
kurz stutzt, wahrscheinlich, weil er sie noch nie geschminkt und in
Schale geworfen gesehen hat.
»Chic sehen Sie
aus«, schmeichelt Swensen und sagt zu der Frau an seiner
Seite: »Anna, das ist Susan Biehl, die Seele der Husumer
Inspektion.« Dann wendet er sich an Susan Biehl. »Und
das ist Anna Diete, Susan, meine Lebenspartnerin.«
»Freut mich, Sie
endlich kennenzulernen, Frau Biehl. Jan hat schon viel von Ihnen
erzählt.«
»Hoffentlich nur
Gutes! Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen, Frau
Diete.«
»Wir haben uns
hier noch nie getroffen, Susan, sind Sie öfter hier?«,
fragt Swensen.
»Nein, unsere
Vorsitzende hat vorgeschlagen, hierher zu gehen. Ich mach doch
wieder bei den Pole-Poppenspäler-Tagen mit, und da setzen wir
uns nach dem Ende der letzten Vorstellung immer noch irgendwo mit
den Künstlern zusammen, um ein wenig zu
plaudern.«
»Poppenspäler-Tage?
Davon hast du mir noch nie was erzählt, Jan!«
»Dabei hab ich
Herrn Swensen schon letztes Jahr davon vorgeschwärmt«,
säuselt Susan. »Morgen Vormittag spielt zum Beispiel das
Seelenfaden-Puppentheater aus Karlsruhe. Die wiederholen ihr
Stück ›Bulemanns Haus‹, sehr zu
empfehlen.«
»›Bulemanns
Haus‹? Das gibt’s doch nicht! Das kann kein Zufall
sein, Jan, das möchte ich unbedingt sehen!«
»Ich kann
versuchen, Ihnen Karten zu reservieren.«
»Wirklich? Das
wäre großartig, Frau Biehl!«
»Aber nur, wenn
Sie auch die Abendvorstellung im Husumhus ansehen. Da spielt der
berühmte Puppenspieler Wiktor Šemik die Fabel von einem
kleinen Schaf. Wirklich ganz was Besonderes! Das Stück
heißt: Ursache und Wirkung.«
»Ursache und
Wirkung?«, fragt Swensen. »Das ist buddhistisch. Hat
das Stück etwas mit Karma zu tun, Susan?«
»Karma?«
Susan sieht hilfesuchend zu Anna Diete hinüber.
»Ursache und
Wirkung ist das Prinzip des Karmas«, erklärt Swensen
unbeirrt.
»Ich glaube,
Buddha hatte nichts mit Puppenspiel zu tun, Jan«, versucht
Anna die Situation aufzufangen. »Können Sie uns für
das Stück bitte auch Karten besorgen, Frau
Biehl?«
*
Ein zischendes
Geräusch lässt ihn aufschrecken. Voller Panik bleibt er
stocksteif auf dem Rücken liegen. Um ihn herum ist es schwarz,
nur der schwache Lichtstreifen einer Taschenlampe bewegt sich
hinter der Mauer. Er hört Schritte von mehreren Personen,
drückt sich ängstlich an die kalten Ziegel und
verhält sich mucksmäuschenstill. Es wäre nicht das
erste Mal, dass man ihn nachts angreifen und schlagen würde.
Die Glatzen können überall auftauchen.
Erst vor zwei Jahren
hat es einen Obdachlosen in Schleswig erwischt, fällt es ihm
siedendheiß ein, und die beiden Skinheads, die ihn erschlagen
haben, sind mit nur sieben Jahren wegen Körperverletzung mit
Todesfolge davongekommen.
Was ist, wenn mich
einige dieser Glatzen tagsüber beobachtet haben? Sie
könnten mir heimlich gefolgt sein und gewartet haben, bis ich
fest eingeschlafen bin. Nein, die hätten nicht so lange
gezögert, die wären schon lange über mich
hergefallen, beruhigt er sich, da muss was anderes ablaufen, da
hinter der Mauer.
Nachdem Harald Timm
eine lange Zeit ausgeharrt hat, nimmt er seinen ganzen Mut
zusammen, dreht sich langsam auf den Bauch und robbt leise bis an
das eine Ende der Mauer. Es dämmert bereits. Gegen 2 Uhr war
er in den Schlosspark gekommen und hatte sich hinter dem
Kriegerdenkmal zum Schlafen hingelegt. Auf der Vorderseite der
roten Ziegelmauer prangt in altdeutschen Buchstaben:
›Fürs Vaterland starben‹. Die Mauer knickt an
beiden Seiten etwas schräg nach vorn. Im Schatten hinter dem
rechten Mauerwinkel ist seine Schlafstätte so gut wie
unsichtbar, selbst vom nahen Fußweg aus kann sie im Dunkeln
kaum wahrgenommen werden. Der Obdachlose ist häufig hier, denn
er schläft gern möglichst allein. Wer allein
schläft, wird auch nicht beklaut, ist seine Devise.
Die Erfahrung sagt:
Auf der Straße gibt es keine Freundschaft. Es gibt Bekannte
dort, gute Kumpels, das schon, aber richtige Freunde kann man sich
als Tippelbruder abschminken. Für Freundschaft musst du bis
zum Horizont gucken können, auf der Straße siehst du
aber immer nur bis zur nächsten Ecke. Auf Platte sein ist ein
ewiger, unbarmherziger Überlebenskampf, und früher oder
später bleibt jede Freundschaft auf der Strecke.
Mit
äußerster Vorsicht lugt Harald Timm um die Mauerkante.
Die Luft ist rein, nur die steinerne Frauenfigur hockt
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