Poppenspael
kennen
Sie Asmussen, diese große Getreidehandelsfirma unten im Hafen
…?«
»Nee, nie was
von gehört.«
»Ist auch
besser, eine elende Bande ist das. Macht schmutzige Geschäfte
mit Russland. Als ich die Machenschaften nicht mitmachen wollte, da
hat man mich eiskalt abserviert. Hab nirgendwo neue Arbeit
gefunden, in meinem Alter, und meine Frau ist mir vor Kummer
weggestorben. Die hat das einfach nicht mehr ausgehalten, tagaus,
tagein mit dem knappen Geld.«
Es ist immer das
Gleiche, denkt Timm, entweder wird man als Penner angepöbelt,
oder die Leute labern dich voll. Kaum zu glauben, wildfremde
Menschen erzählen dir Sachen, die sie nicht mal mit ihrem
Pastor besprechen würden.
»Nichts für
ungut, Mann, ich muss zurück auf meine Platte«, versucht
er den Redefluss des Mannes zu stoppen. »Ich sag immer: Was
man bis elf nicht geschafft hat, schafft man danach auch nicht
mehr.«
»Wart ’n
Moment«, sagt der Mann, fasst in seine Jackentasche und
fingert einen Fünf-Euro-Schein heraus. »Es ist noch
lange nicht elf, kauf dir was zu essen!«
»Oh, besten
Dank«, sagt Timm, greift gierig nach dem Schein und
schlendert in Richtung Innenstadt davon. Der Tag fängt gut
an.
*
Es gibt Momente, da
kommen ihr die Leute auf der Straße extrem befremdlich vor,
besonders wenn sie ungewohnt früh das Haus verlässt. Der
merkwürdige Mensch dort drüben, denkt sie, der mit seinen
verkrampften Schultern die gesamte Lebensenergie im Oberkörper
zusammengezogen haben muss und gierig den Rauch seiner Zigarette
inhaliert, als würde er sonst ersticken. Von so einem Menschen
fühlt Hanna Lechner sich innerlich so weit entfernt, dass ihr
die Worte dafür fehlen.
Oder die junge Frau,
deren spindeldürre Ärmchen wie fleischlose Knochen mit
Haut aus ihrer Bluse ragen. Ein wandelndes Skelett, das mehr im
Jenseits unterwegs ist. Da könnte man Angst haben, dass der
kleine Rucksack ihr Rückgrat einfach in der Mitte
durchbricht.
Und dann der
unrasierte Kerl dahinter, bei dem der Kopf wie eine
pausbäckige Kugel aus dem wabbligen Körper ragt, der ein
fettbeschmiertes gelbes T-Shirt über seiner ausgebufften
Trainingshose trägt und seine Wurstfinger in ein rundes
Stück Brot krallt, das in einer Papiertüte steckt, es mit
seinen gelben Zähnen malträtiert, bis der Krautsalat aus
dem Mund heraushängt.
Sie alle gehören
zu der Gattung, die Hanna Lechner nicht mit in ihre Vorstellungen
vom erfüllten Menschsein einreihen möchte. Alle machen
den Eindruck, als würden sie von einer äußeren
Kraft getrieben, als könnten sie sich nicht frei aus eigenen
Stücken vorwärts bewegen. Und das ist nur ein kleiner
Ausschnitt der Wirklichkeit, das sichtbare Symptom dieser
verkorksten Gesellschaft, die von Jahr zu Jahr immer weiter
auseinanderdriftet.
Es fehlt allen der
innere Halt, denkt sie. Die Menschen finden keinen Sinn, versuchen
ihre innere Leere zu stopfen. Sie haben den Glauben an den Herrn
verloren, der unser einziger Weg ist. Ich weiß das, ich lebe
über 20 Jahre mit ihm allein.
In einem Hauseingang
sitzt ein angetrunkener Mann, apathisch vornüber gebeugt.
Hanna Lechner überlegt, auf die andere Straßenseite zu
wechseln, als die Haustür aufgerissen wird und ein
glatzköpfiges Muskelpaket herausschnellt, den Kerl am
schmutzigen Hemdskragen packt und auf den Bürgersteig
stößt, direkt vor ihre Füße. Der rechte
Unterarm des Glatzkopfs ist tätowiert, altdeutsche Buchstaben
verkünden: ›Leben ist Kampf.‹
»Setz dich nie
mehr vor ein deutsches Haus, du versiffter Penner!«,
brüllt er und ist sofort wieder im Hausflur
verschwunden.
Sie überlegt
kurz, ob sie dem Mann helfen soll, entscheidet sich aber dagegen.
Angetrunkene machen der Lehrerin Angst, genauso viel Angst wie
gewalttätige Menschen.
»Es wird
höchste Zeit, dass die CDU wieder das Ruder in diesem Lande
übernimmt«, wünscht sie sich und biegt in den
Heckenweg ab. Heute bei den Bundestagswahlen gibt es die
Gelegenheit, dafür zu sorgen. Sie wird ihrer
Bürgerpflicht Genüge tun, deswegen ist sie an diesem
Sonntagmorgen bereits so früh auf den Beinen.
Hanna Lechner hat noch
36 Stunden zu leben.
Sie möchte ihre
Stimme unbedingt vor Beginn der ersten Vorstellung des Festivals
abgegeben haben. Das zugewiesene Wahllokal befindet sich
ausgerechnet in ihrem Schulgebäude, was ihr ein wenig
unangenehm ist, weil sie als Privatperson kommt und nicht als
Rektorin. Das kleinere Übel, denkt sie, denn weitere vier
Jahre mit diesem Schröder wären für
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