Porterville - Mystery-Serie: Edition I (Folgen 1-6)
Bewegung.
„Das sind die Privilegien der Führungsschicht“, erklärt mir Jonathan und rollt mit den Augen. „Ich mache so etwas sonst nie, aber ich möchte, dass du sicher zur Schule kommst.“
Ich frage mich, was mir in dieser Stadt geschehen soll. Selbst zu solch später Zeit. Aber ich widerspreche nicht, denn die Aufregungen des Abends haben mich angestrengt. Der Alkohol hat auch seinen Anteil daran.
Der Bus hält unmittelbar vor dem Wohnheim der Schule. Jonathan küsst mich zum Abschied. Ich spüre, wie seine Hand über meine Brust streicht. Ich lasse ihn gewähren.
„Ich hole dich morgen nach dem Unterricht ab“, sagt er. „Vorausgesetzt, du hast es dir bis dahin nicht anders überlegt.“
Ich schüttele den Kopf. „Das werde ich nicht! Aber ich muss zuvor noch kurz bei meinem Großvater reinschauen.“
Eine Lehrerin sitzt in der Glaskabine im Eingangsbereich des Wohnheims. Sie erhebt sich mit einem wütenden Gesichtsausdruck von ihrem Stuhl, und ich denke, Mrs. Sato hat es wohl doch versäumt, ihren Einfluss geltend zu machen. Doch dann erkennt mich die Lehrerin. Ihre Wut verwandelt sich in Missfallen. Sie bedient den Türöffner.
„Guten Abend“, sage ich. Sie wendet den Kopf zur Seite und tut so, als gäbe es auf ihrem Computermonitor etwas Interessantes zu sehen.
Ich teile mir ein winziges Zimmer mit Tori. Sie schläft bereits und ich versuche, möglichst leise zu sein. Auch wenn sie meine beste Freundin ist, verspüre ich keine Lust, ihr all die Fragen nach meinem langen Wegbleiben, die sie garantiert hat, zu beantworten. Gleich nachdem ich Jonathan kennenlernte, habe ich ihr von ihm erzählt. Und dass ich mich wohl in Jonathan verliebt habe. Tori hat sich geschüttelt, als hätte ich etwas besonders Ekelhaftes getan. „Du bist zu jung“, warf sie mir vor. „Wenn die Zeit gekommen ist, wird dir die Instanz für Lebensgemeinschaften den idealen Partner zuweisen.“
In solchen Dingen ist sie ziemlich streng. Aber natürlich sind wir trotzdem noch beste Freundinnen.
Als ich die Zimmertür verschließen will, höre ich Gelächter. Es klingt nicht belustigt, sondern eher hämisch. Und ich glaube, die Stimme von Debra herauszuhören. Jener überheblichen Zicke, die mich am Vormittag beim Kartenspiel abgezockt hat.
Ich kehre zurück auf den Flur. In das Lachen mischt sich ein vereinzeltes Schluchzen. Ein Lichtschimmer dringt unter der Tür zum Trainingsraum am Ende des Flurs hindurch. Dort verbringt meine Klasse täglich mindestens eine Stunde mit Gymnastik und Wettkämpfen.
Ich bin nur noch ein paar Schritte von der Tür entfernt, da ertönt das ebenso vertraute wie widerwärtige Wort: „Frischling!“
Die Stimmen kreischen es immer wieder. Am lautesten Debra.
Ich stoße die Tür auf. Ein halbes Dutzend Mädchen umringt eine der Sprossenwände, an denen wir unsere Turnübungen machen müssen. Ein Mädchen von vielleicht elf Jahren ist dort mit Seilen kopfüber angebunden. Es weint. Debra und ihre Freundinnen bewerfen das Mädchen aus geringer Distanz mit Basketbällen und brüllen kichernd ihr „Frischling!“
Als Frischlinge bezeichnen die Älteren die Neuankömmlinge aus der Grundstufe. Ich habe keine Ahnung, wer diesen Ausdruck erfunden hat. Es bereitet einigen von uns Vergnügen, die Neuen in der Anfangszeit zu quälen. Die jungen Schülerinnen müssen ihnen zu Diensten sein. Betten machen, Schuhe putzen oder Botengänge erledigen. Manchmal werden sie aber auch gepeinigt. Ein Klaps oder ein Kneifen. Aber das hier geht weit darüber hinaus.
Das Mädchen an der Sprossenwand versucht vergeblich, den harten Bällen auszuweichen. Das ist kein Spaß mehr. Besonders Debra legt viel Kraft in ihre Würfe.
Das wimmernde Mädchen blutet aus dem linken Ohr.
Eine von Debras Freundinnen wendet sich um und entdeckt mich.
„Hey!“, ruft sie. „Da ist Emily!“
Für einen Moment lassen alle von ihrem makaberen Treiben ab und starren mich an. Debra kommt auf mich zu und wechselt dabei ihren Ball unentwegt von einer Hand in die andere. Sie ist die beste Basketball-Spielerin unserer Stufe.
„Steigst du mit ein?“, fragt sie mich und hält mir ihren Ball hin. „Ich glaube, es steht etwa dreißig zu null.“
Ich blicke zu dem gefesselten Mädchen. Unter ihrem baumelnden Kopf sammelt sich eine kleine Blutlache.
„Die Kleine hat genug“, sage ich ganz ruhig.
„Wenn du meinst.“ Debra zieht einen Schmollmund. „Du warst schon immer eine Spielverderberin.“ Übergangslos grinst sie
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