Portrat in Sepia
mit verdünnter Milch aus einer Tropfflasche ernähren mußte,
weil es kaum schlucken konnte, außerdem mußte er es
unaufhörlich schaukeln, weil es Tag und Nacht schrie wegen der
Koliken, die es plagten. Dabei war das kleine Geschöpf nicht
einmal ein angenehmer Anblick, so winzig und faltig, wie es
war, die Haut war von der Gelbsucht gefärbt, das Gesicht platt
von der schwierigen Geburt, zudem hatte es nicht ein einziges
Haar auf dem Kopf; aber nachdem Tao es vierundzwanzig
Stunden versorgt hatte, konnte er es immerhin schon ansehen,
ohne zu erschrecken. Nach vierundzwanzig Tagen, in denen er
die Kleine in einem Beutel auf dem Rücken getragen, sie mit der
Tropfflasche gefüttert und mit ihr zusammen geschlafen hatte,
kam sie ihm schon recht niedlich vor. Und nach vierundzwanzig
Monaten, während deren er sie wie eine Mutter gepflegt hatte,
war er restlos verliebt in seine Enkeltochter und absolut
überzeugt, sie würde sogar noch schöner werden als Lynn,
obwohl nicht der geringste Grund bestand, so etwas zu
vermuten. Zwar war das Kind nicht mehr die Molluske, die es
nach der Geburt gewesen war, aber doch weit davon entfernt,
seiner Mutter ähnlich zu sehen. Taos Gewohnheiten, die sich
früher auf seine Arztpraxis und die Stunden nächtlichen
Beisammenseins mit seiner Frau beschränkt hatten, änderten
sich völlig. Sein Tagesplan drehte sich um Lai-Ming, diese
anspruchsvolle kleine Göre, die an ihm hing wie eine Klette, der
er Geschichten erzählen, zum Einschlafen Lieder vorsingen, die
er zum Essen überreden, spazierenführen mußte, der er in den
amerikanischen und chinesischen Läden die hübschesten
Kleider kaufte, in denen er sie dann auf der Straße aller Welt
vorführte, und überhaupt hatte man noch nie ein so schlaues
kleines Mädchen gesehen, wie der Großvater glaubte, den die
Liebe ein wenig benebelte. Er war sicher, daß seine Enkelin ein
Genie war, und um das zu beweisen, sprach er mit ihr
Chinesisch und Englisch, was, vermischt mit dem nicht
unbedingt einwandfreien Spanisch der Großmutter, einen
beträchtlichen Mischmasch ergab. Lai-Ming erwiderte Taos
anregende Dauerbeschäftigung mit ihr wie jedes zweijährige
Kind, aber für ihn waren diese spärlichen Erfolge der
unleugbare Beweis für eine herausragende Intelligenz. Er
verminderte seine Sprechstunden auf einige wenige am
Nachmittag, so konnte er die Vormittage mit seiner Enkelin
verbringen und ihr neue Fertigkeiten beibringen wie einem
abgerichteten Äffchen. Er sah es nur ungern, daß Eliza die
Kleine nachmittags in ihren Teesalon mitnahm, denn er hatte
sich in den Kopf gesetzt, er könne jetzt schon anfangen, sie in
medizinischen Dingen zu unterrichten. »In meiner Familie gibt
es einen zhong yi seit sechs Generationen, Lai-Ming wird der
siebente sein, denn du hast ja nicht die mindeste Begabung
dafür«, teilte Tao seinem Sohn Lucky mit.
»Ich denke, nur Männer können Arzt werden«, wandte Lucky
ein.
»Das war früher. Lai-Ming wird der erste weibliche zhong yi der Geschichte sein.«
Aber Eliza gestattete nicht, daß er ihrer Enkelin in so jungen
Jahren den Kopf mit medizinischen Belehrungen vollstopfte;
dazu würde auch später noch Zeit sein, im Augenblick war es
wichtiger, das Kind täglich ein paar Stunden aus Chinatown
herauszuholen, um es zu amerikanisieren. In diesem Punkt
wenigstens waren sich die Großeltern einig, Lai-Ming mußte zur
Welt der Weißen gehören, wo sie entschieden mehr
Möglichkeiten haben würde als unter Chinesen. Da war es
günstig, daß sie keine asiatischen Züge hatte, sie sah so spanisch
aus wie die Familie ihres Vaters. Die Möglichkeit, Severo del
Valle könnte eines Tages kommen, um seine angebliche Tochter
zu verlangen und nach Chile mitzunehmen, war so unerfreulich,
daß sie sie gar nicht erst erwähnten; sie nahmen einfach fest an,
daß der junge Chilene das Abkommen respektieren werde, er
hatte ja mehr als genügend Beweise für seine anständige
Gesinnung geliefert. Das Geld, das er für die Kleine bestimmt
hatte, rührten sie nicht an, sie deponierten es auf einem Konto
für ihre zukünftige Ausbildung. Alle drei, vier Monate schrieb
Eliza an Severo einen kurzen Brief, in dem sie ihm von »seinem
Schützling« erzählte, wie sie ihre Enkelin nannte, damit auch ja
klar war, daß sie ihm keine väterlichen Rechte zugestand. Im
ersten Jahr gab es keine Antwort von ihm, weil er in seiner
Trauer verkapselt und im Krieg untergetaucht war, aber danach
Weitere Kostenlose Bücher