Portrat in Sepia
erklärte Donaldina
und Martha, die Lebenserwartung der Sing Song Girls, wenn sie
erst einmal in ihre Tätigkeit eingeführt seien, betrage drei bis
vier Jahre: sie mußten bis zu dreißig Männer am Tag
empfangen, starben an Geschlechtskrankheiten, Abtreibungen,
Lungenkrankheit, Hunger und Mißhandlung; eine
zwanzigjährige chinesische Prostituierte sei eine Seltenheit.
Keiner führte Buch über ihr Leben, aber da sie das Land mit
einem legalen Dokument betreten hatten, mußte ein
Totenregister geführt werden für den unwahrscheinlichen Fall,
daß jemand nach ihnen fragte. Viele wurden wahnsinnig. Sie
waren billig, konnten jederzeit im Handumdrehn ersetzt werden,
keiner wendete Zeit oder Geld auf für ihre Gesundheit, damit sie
durchhalten konnten. Tao nannte den Missionarinnen die
ungefähre Anzahl vo n Sklavenkindern in Chinatown, sagte
ihnen, wann die Versteigerungen durchgeführt wurden und wo
sich die Bordelle befanden, von den erbärmlichsten, in denen die
Mädchen wie eingesperrte Tiere behandelt wurden, bis zu den
luxuriösesten, die von der berühmten Ah Toy geleitet wurden,
der größten Importeurin von ländlichem Frischfleisch. Sie
kaufte elfjährige Kinder in China, und auf der Überfahrt nach
Amerika überließ sie sie den Matrosen, so daß sie bei der
Ankunft schon »erst zahlen« sagen und echtes Geld vo n
Blechgeld unterscheiden konnten, damit sie nicht mit Metall für
Trottel betrogen wurden. Ah Toys Mädchen waren unter den
schönsten ausgesucht worden und hatten mehr Glück als die
anderen, deren Schicksal es war, wie Vieh versteigert zu werden
und den übelsten Männern dienstbar zu sein in der Art, die diese
verlangten, einschließlich der grausamsten und erniedrigendsten.
Viele wurden zu wilden Geschöpfen mit dem Gehaben
tollwütiger Tiere, sie wurden mit Ketten ans Bett gefesselt und
mit Narkotika betäubt. Tao gab den Missionarinnen die Namen
von einigen wohlhabenden und angesehenen chinesischen
Händlern, darunter den seines Sohnes Lucky, die ihnen bei ihrer
Aufgabe helfen könnten, die einzigen, die mit ihm einig waren,
daß diese Art Geschäft ausgemerzt werden mußte. Donaldina
und Martha notierten sich mit zitternden Händen und
tränennassen Augen, was Tao ihnen erzählte, und dankten ihm
dafür, und beim Abschied fragten sie, ob sie auf ihn zählen
konnten, wenn der Augenblick, zu handeln, gekommen sei.
»Ich werde tun, was ich kann«, antwortete der zhong yi.
»Wir auch, Mister Chi’en. Die presbyterianische Mission wird
nicht ruhen, ehe nicht dieser Perversion ein Ende gemacht und
die armen Mädchen gerettet worden sind, und wenn wir die
Türen zu diesen Lasterhöhlen mit dem Beil einschlagen
müssen«, versicherten sie ihm.
Als Lucky hörte, was sein Vater getan hatte, wurde er von
bösen Ahnungen gequält. Er kannte das Milieu von Chinatown
besser als sein Vater und war sich darüber im klaren, daß der
eine irreparable Unbesonnenheit begangen hatte. Dank seiner
Gewandtheit und seinem sympathischen Auftreten hatte Lucky
Freunde auf allen Ebenen der chinesischen Gemeinde; seit
Jahren machte er einträgliche Geschäfte und gewann mit Maßen,
aber beständig an den Fan-Tan-Tischen. Trotz seiner Jugend war
er bei allen beliebt und geachtet, selbst bei den Tongs, die ihn
noch nie belästigt hatten. Jahre hindurch hatte er seinem Vater
geholfen, die Sing Song Girls zu retten mit der schweigenden
Übereinkunft, sich nie in größere Schwierigkeiten zu bringen; er
kannte genau die Notwendigkeit unbedingter Zurückhaltung,
wenn man in Chinatown überleben wollte, wo die goldene Regel
lautete: Laß dich nie mit den Weißen ein - den gefürchteten und
gehaßten fan gui und kläre alles, besonders die Verbrechen,
unter Landsleuten. Früher oder später würde lautbar werden, daß
sein Vater die Missionarinnen informiert hatte und die
wiederum die amerikanischen Behörden. Es gab kein sichereres
Mittel, das Unheil auf sich zu ziehen, und all sein berühmtes
Glück würde nicht ausreichen, sie zu beschützen. So sagte er es
Tao, und so geschah es auch im Oktober 1885, dem Monat, in
dem ich fünf Jahre alt wurde.
Das Schicksal meines Großvaters entschied sich an jenem
denkwürdigen Dienstag, an dem die beiden jungen
Missionarinnen, begleitet von drei stämmigen irischen Polizisten
und dem alten, auf Verbrechen spezialisierten Journalisten Jacob
Freemont, am hellichten Tage in Chinatown auftauchten. Die
Geschäftigkeit auf der Straße
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