Portrat in Sepia
zu ihm durfte,
warum sie nicht in seine Arme gekuschelt schlafen durfte wie
immer. Eliza verabreichte dem Kranken die Drogen mit der
gleichen Geduld, mit der sie versuchte, ihm Suppe durch einen
Trichter einzuflößen. Sie ließ sich nicht von Verzweiflung
hinreißen, ruhig und ohne Tränen wachte sie tagelang neben
ihrem Mann, bis er durch die geschwollenen Lippen und die
zerbrochenen Zähne zu ihr sprechen konnte. Der zhong yi wußte
ohne jeden Zweifel, daß er unter diesen Umständen nicht leben
konnte und nicht leben wollte, so sagte er es auch seiner Frau
und bat sie, sie möge ihm weder zu essen noch zu trinken geben.
Die tiefe Liebe und die unumschränkte Vertrautheit, die sie
mehr als dreißig Jahre geteilt hatten, ermöglichte es ihnen, die
Gedanken des anderen zu erraten; es war nicht nötig, viel zu
reden. Wenn Eliza sich versucht fühlte, ihren Mann zu bitten, er
möge doch ohne Zweck und Nutzen im Bett weiterleben, nur um
sie nicht allein auf der Welt zu lassen, dann schluckte sie die
Worte hinunter. Tao selbst brauchte nichts zu erklären, er wußte,
daß seine Frau das Unumgängliche tun werde, um ihm zu
helfen, in Würde zu sterben, wie er es im umgekehrten Fall auch
für sie tun würde. Er dachte, es sei auch nicht der Mühe wert,
darauf zu bestehen, daß sie seinen Leichnam nach China
brächte, denn das schien ihm nicht mehr wirklich wichtig, und
er wollte Eliza auch nicht noch eine Last mehr auf die Schultern
laden, aber sie hatte beschlossen, es auf jeden Fall zu tun.
Keiner von beiden hatte den Mut, lang und breit über das zu
sprechen, was offensichtlich war. Eliza sagte ihm nur, sie bringe
es nicht über sich, ihn vor Hunger und Durst sterben zu lassen,
denn das könne viele Tage, vielleicht Wochen dauern, und sie
werde nicht erlauben, daß er so lange leiden müsse. Tao sagte
ihr, was zu tun sei. Sie solle in sein Sprechzimmer gehen und
aus einem bestimmten Wandfach ein blaues Fläschchen holen.
Sie hatte in den ersten Jahren ihres Zusammenlebens in seiner
Praxis gearbeitet und tat das noch immer, wenn der Assistent
ausfiel, konnte auch noch die chinesischen Zeichen auf den
Behältern lesen und verstand eine Spritze zu setzen. Lucky
betrat das Zimmer, um den Segen seines Vaters zu empfangen,
und ging danach wieder, von Schluchzen geschüttelt. »Lai-Ming
und du, ihr dürft euch keine Sorgen machen, denn ich werde
euch nicht verlassen, ich werde immer nahe sein, um euch zu
beschützen, nichts Böses wird euch beiden geschehen können«,
flüsterte Tao. Eliza nahm ihre Enkeltochter auf den Arm und
hielt sie dem Großvater hin, damit sie voneinander Abschied
nehmen konnten. Lai-Ming sah das verschwollene Gesicht und
fuhr erschrocken zurück, aber da entdeckte sie, daß die
schwarzen Augen sie mit derselben sicheren Liebe wie immer
ansahen, und erkannte ihn. Sie klammerte sich an die Schultern
ihres Großvaters, küßte und rief ihn verzweifelt, überströmte ihn
mit heißen Tränen, bis sie von ihm weggerissen, aus dem
Zimmer getragen und ihrem Onkel Lucky in die Arme gelegt
wurde. Eliza ging zurück in das Zimmer, in dem sie mit ihrem
Mann so glücklich gewesen war, und schloß sacht die Tür hinter
sich.
»Was geschah danach, oi poa?« fragte ich.
»Ich tat, was ich tun mußte, Lai-Ming. Dann legte ich mich
neben Tao und küßte ihn lange. Sein letzter Atem blieb bei
mir…«
Epilog
Wäre nicht meine Großmutter Eliza von weit her gekommen,
um die dunklen Winkel meiner Vergangenheit auszuleuchten,
und häuften sich nicht diese Tausende von Fotos in meinem
Haus, wie hätte ich diese Geschichte erzählen können? Ich hätte
sie mit Hilfe der Einbildungskraft zusammenstückeln müssen
ohne anderes Material als die immer wieder entgleitenden Fäden
vieler fremder Leben und einige trügerische Erinnerungen. Das
Gedächtnis ist ein ganz eigenes Gespinst. Wir suchen das
Strahlendste und das Finsterste heraus, übergehen, was uns
beschämt, und so besticken wir die farbige Tapisserie unseres
Daseins. Mit der Fotografie und dem geschriebenen Wort
versuche ich verzweifelt, die vergängliche Beschaffenheit
meiner Existenz zu besiegen, die Augenblicke festzuhalten, ehe
sie vergehen, die Wirrnis meiner Vergangenheit aufzuräumen.
Jeder Augenblick verschwindet in einem Hauch und verwandelt
sich sogleich in Vergangenheit, die Wirklichkeit ist vergänglich,
sie zieht vorüber und ist pure Sehnsucht. Mit diesen Fotos und
diesen Zeilen erhalte ich die
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