Portrat in Sepia
weiter in mir
tragen werde. Eliza lebt in einer anderen Dimension neben Tao,
dessen Tod ein schweres Unglück war, aber kein Hindernis, ihn
weiterhin zu lieben wie vorher. Meine Großmutter ist eines
dieser Wesen, die für eine einzige große Liebe bestimmt sind,
ich glaube nicht, daß eine andere in ihrem Witwenherzen Platz
hat. Nachdem sie ihren Mann in China neben dem Grab seiner
ersten Frau Lin begraben und die buddhistischen
Bestattungsriten so erfüllt hatte, wie er es gewünscht hätte, fand
sie sich frei. Sie hätte nach San Francisco zurückkehren können,
um bei ihrem Sohn Lucky zu leben und seiner jungen Frau, die
er sich per Katalog aus Shanghai hatte schicken lassen, aber der
Gedanke, eine gefürchtete und verehrte Schwiegermutter zu
werden, hieß nichts anderes als sich ins Alter ergeben. Sie fühlt
sich weder einsam, noch hat sie Angst vor der Zukunft, denn der
beschützende Geist Taos ist immer bei ihr; in Wirklichkeit sind
sie mehr zusammen als früher, sie trennen sich keinen
Augenblick. Sie hat sich angewöhnt, mit ihm zu reden, natürlich
leise, damit sie vor den Augen anderer nicht als Verrückte
dasteht, und nachts schläft sie auf der linken Seite des Bettes,
um ihm den Platz zur Rechten zu überlassen, wie sie es gewohnt
waren. Der Reiz des Abenteuers, der auch damals schon mit im
Spiel war, als sie, gerade sechzehn Jahre alt, im Bauch eines
Schiffes nach Kalifornien ausriß auf der Suche nach Joaquin, tat
jetzt erneut seine Wirkung. Sie erinnerte sich an einen festlichen
Augenblick mitten im wildesten Goldrausch: Das Wiehern ihres
Pferdes und die ersten Sonnenstrahlen hatten die inzwischen
Achtzehnjährige geweckt in der Unendlichkeit einer rauhen,
einsamen Landschaft. In dieser Morgenfrühe entdeckte sie das
erregende Gefühl der Freiheit. Sie hatte die Nacht allein unter
den Bäumen verbracht, umgeben von tausend Gefahren
-
schonungslos zuschlagenden Banditen, wilden Indianern,
Schlangen, Bären und anderen wilden Tieren -, und trotzdem
hatte sie zum erstenmal im Leben keine Angst gehabt. Sie war
in einem Korsett aufgewachsen, das Körper, Seele und
Phantasie einzwängte, selbst vor ihren eigenen Gedanken war
sie zurückgeschreckt, aber dieses Abenteuer hatte sie frei
gemacht. Sie mußte eine Kraft entwickeln, die sie womöglich
schon immer gehabt, aber bisher nicht benötigt und deshalb
nicht gekannt hatte. Sie hatte den Schutz ihres Heims verlassen,
um der Spur eines davongelaufenen Liebhabers zu folgen, als
sie noch ein ganz junges Ding war, hatte sich schwanger als
blinder Passagier auf ein Schiff schmuggeln lassen, wo sie das
Kind verlor und beinahe auch ihr Leben, war in Kalifornien
gelandet, hatte sich als Mann verkleidet und sich angeschickt,
das Land kreuz und quer abzusuchen ohne mehr Waffen oder
Geräte als den verzweifelten Drang der Liebe. Sie hatte es
geschafft, allein in einer Welt wildgewordener Männer zu
überleben, in der Gier und Gewalt herrschten, und mit der Zeit
wurde sie immer beherzter und gewann mehr und mehr Gefallen
an der Unabhängigkeit. Dieses euphorische Erleben des
Abenteuers hatte sie nie wieder vergessen. Nicht einmal der
Liebe wegen: zwar lebte sie dreißig Jahre als Tao Chi’ens
nichtlegitime Ehefrau, war Mutter und Kuchenbäckerin, tat ihre
Pflicht ohne größeren Horizont als ihr Zuhause in Chinatown,
aber der Keim, den diese Wanderjahre gepflanzt hatten, war in
ihrem Geist unversehrt geblieben und wartete nur darauf, im
geeigneten Augenblick aufzubrechen. Als Tao, der einzige
Bezugspunkt in ihrem Leben, starb, war die Stunde gekommen,
wieder auf Fahrt zu gehen. »Im Grunde bin ich immer ein
Weltenbummler gewesen, herumreisen ohne festes Ziel, das
mag ich am liebsten«, schrieb sie an ihren Sohn Lucky.
Dennoch entschied sie, daß sie zuerst das Versprechen erfüllen
müsse, das sie ihrem Vater, dem Kapitän Sommers, gegeben
hatte, nämlich ihre Tante Rose im Alter nicht allein zu lassen.
Aus Hongkong fuhr sie nach England, um der alten Dame in
ihren letzten Jahren beizustehen; das war das mindeste, was sie
für diese Frau tun konnte, die ihr wie eine Mutter war. Rose
Sommers war über siebzig, und ihre Gesundheit ließ spürbar
nach, aber sie schrieb immer noch ihre romantischen
Liebesromane, die einander alle mehr oder weniger ähnelten,
und war damit eine der berühmtesten Schriftstellerinnen dieser
Art in englischer Sprache geworden. Es gab Neugierige, die von
weit her angereist kamen, um die
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