Portrat in Sepia
häßlich,
ungeeignet, unweiblich; ich schämte mich meines Körpers und
der Leidenschaft, die Iván in mir weckte. Rose Sommers, die
weit entfernte Urgroßtante, die ich nicht kannte, machte mir ein
wunderbares Geschenk, als sie mir diese verspielte Freiheit gab,
die für die Liebe so unerläßlich ist. Iván nimmt die Dinge zu
ernst, sein Temperament neigt zur Schwermut; bisweilen
versinkt er förmlich in Verzweiflung, weil wir nicht
zusammenleben können, bis mein Mann stirbt, und dann werden
wir sicherlich schon sehr alt sein. Wenn diese finsteren Wolken
ihm das Gemüt verdüstern, greife ich zu den Manuskripten der
anonymen Dame, in denen ich immer neue Hilfsmittel entdecke,
um ihm Lust zu machen oder ihn wenigstens zum Lachen zu
bringen. Über der Aufgabe, ihn mit höchst vertraulichen Spielen
zu unterhalten, habe ich die Scham verloren und eine Sicherheit
gewonnen, die ich mir nie zugetraut hätte. Ich fühle mich nicht
als Verführerin, so stark ist die positive Wirkung der
Manuskripte denn doch noch nicht, aber wenigstens fürchte ich
mich nicht mehr davor, die Initiative zu ergreifen und Iván auf
Trab zu bringen, der sich sonst in ein und derselben Routine
bequem einrichten würde. Es wäre doch eine fürchterliche
Vergeudung, uns wie ein altes Ehepaar zu lieben, wenn wir
nicht einmal verheiratet sind. Der Vorteil an dem Zustand,
Liebende zu sein, liegt darin, daß wir mit unserer Verbindung
sehr behutsam umgehen müssen, weil alle äußeren Verhältnisse
gegen sie sprechen. Der Entschluß zusammenzubleiben muß
immer wieder neu gefaßt werden, das hält uns munter.
Dies ist nun die Geschichte, die mir meine Großmutter Eliza
erzählte:
Tao Chi’en konnte sich den Tod seiner Tochter Lynn nicht
verzeihen. Es war völlig nutzlos, daß seine Frau und Lucky ihm
immer wieder sagten, keine menschliche Macht habe verhindern
können, daß sich ihr Schicksal erfüllte, als zhong yi habe er sein
Möglichstes getan und die medizinische Wissenschaft sei
gegenwärtig noch nicht imstande, einen dieser unseligen
Blutstürze zu verhindern oder aufzuhalten, denen so viele
Frauen bei der Niederkunft erlagen. Für Tao war es, als wäre er
im Kreis gegangen und stünde nun wieder dort, wo er dreißig
Jahre zuvor in Hongkong gestanden hatte, als Lin, seine erste
Frau, ein kleines Mädchen zur Welt brachte. Auch Lin hatte
angefangen, stark zu bluten, und in seiner Verzweiflung hatte er,
um sie zu retten, dem Himmel alles Erdenkliche angeboten im
Tausch gegen Lins Leben. Das Kind war nach wenigen Minuten
gestorben, und er hatte geglaubt, dies sei der Preis für Lins
Genesung. Er hätte nie gedacht, daß er nach so langer Zeit und
auf der anderen Seite der Welt mit seiner Tochter Lynn noch
einmal würde bezahlen müssen.
»Sprechen Sie nicht so, Vater, bitte«, hielt Lucky ihm
entgegen. »Es geht hier doch nicht um einen Tauschhandel
Leben gegen Leben, das sind abergläubische Vorstellungen, die
eines Mannes mit Ihrer Klugheit und Bildung unwürdig sind.
Der Tod meiner Schwester hat weder mit dem Ihrer ersten Frau
noch mit Ihnen selbst etwas zu tun. Solche Unglücksfälle
passieren doch dauernd.«
»Wozu nützen so viele Jahre Studium und Erfahrung, wenn
ich sie doch nicht retten konnte?« klagte er. »Millionen Frauen
sterben beim Kinderkriegen, Sie haben für Lynn getan, was Sie
konnten…« Eliza war genauso traurig über den Tod ihrer
einzigen Tochter wie ihr Mann, aber außerdem lastete auf ihr
auch die verantwortungsvolle Aufgabe, die kleine Waise zu
versorgen. Während sie vor Müdigkeit im Stehen einschlief,
konnte Tao nicht einen Lidschlag lang schlafen; er verbrachte
die Nacht mit Meditieren, wanderte dazwischen durchs Haus
wie ein Mondsüchtiger und weinte im stillen. Sie hatten sich seit
Wochen nicht mehr geliebt, und so, wie die Gemüter in diesem
Heim gestimmt waren, sah es nicht so aus, als würden sie es in
naher Zukunft wieder tun. Das alles ging über Elizas Kräfte,
nach einer Woche entschied sie sich für die einzige Lösung, die
ihr einfiel: Sie legte Tao sein Enkelkind in die Arme und teilte
ihm mit, sie fühle sich schlicht unfähig, die Kleine aufzuziehen,
über zwanzig Jahre habe sie damit verbracht, ihre Kinder Lucky
und Lynn zu hegen und zu pflegen, nun reichten ihre Kräfte
nicht mehr, bei der kleinen Lai-Ming von neuem damit
anzufangen. Tao sah sich in die Pflicht genommen, für ein
mutterloses Neugeborenes zu sorgen, das er alle halbe Stunde
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