Portrat in Sepia
winzige Gestalt zu sehen, wie
sie ihren Hund im Park ausführte, und es hieß, die Königin
Victoria tröste sich in ihrer Witwenschaft mit Roses
zuckersüßen Geschichten von siegreicher Liebe. Die Ankunft
Elizas, die sie liebte wie eine Tochter, war ein ungeheurer Trost
für Rose, nicht zuletzt deshalb, weil ihr oft die Hand versagte
und es ihr immer schwerer fiel, die Feder festzuhalten. Von nun
an diktierte sie ihre Romane, und später, als sie etwas wirr
wurde im Kopf, tat Eliza, als nähme sie das Diktierte auf, aber in
Wirklichkeit schrieb sie die Romane, ohne daß der Verlag oder
die Leserinnen je Verdacht schöpften, es ging nur darum, das
Muster einzuhalten. Nach Roses Tod blieb Eliza in dem
Häuschen im Künstlerviertel wohnen
- das sehr an Wert
gewonnen hatte, weil der Bezirk in Mode gekommen war - und
erbte das Vermögen, das ihre Adoptivmutter mit ihren
Liebesgeschichtchen angehäuft hatte. Als erstes fuhr sie Lucky
in San Francisco besuchen und ihre Enkel besichtigen, die sie
ziemlich häßlich und langweilig fand, dann reiste sie in
exotischere Gegenden und folgte so endlich ihrer Bestimmung
als Vagabundin. Sie war eine dieser Reisenden, die unbedingt
Orte aufsuchen müssen, aus denen andere Leute fliehen. Nichts
befriedigte sie so sehr, als auf ihrem Gepäck Aufkleber und
Anhänger aus den entlegensten Ländern des Planeten zu sehen;
nichts machte sie so stolz, als wenn sie sich unterwegs eine
fremdartige Krankheit einfing oder von einem unbekannten Tier
gebissen wurde. Jahrelang streifte sie mit ihren
Entdeckerkoffern durch die Gegend, aber immer kehrte sie
zurück in das Häuschen in London, wo Severos Briefe mit
Neuigkeiten über mich sie erwarteten. Als sie erfuhr, daß
Paulina nicht mehr lebte, beschloß sie, nach Chile
zurückzukehren - wo sie geboren war und an das sie seit über
einem halben Jahrhundert kaum mehr gedacht hatte -, um ihre
Enkelin wiederzusehen.
Vielleicht hat sich ja meine Großmutter Eliza während der
langen Überfahrt an ihre ersten sechzehn Jahre in Chile erinnert,
diesem schlanken, anmutigen Land; an ihre Kindheit unter der
Obhut einer herzensguten India und der schönen Miss Rose; an
ihr eingeengtes, aber gesichertes Leben, bis der Liebhaber
auftauchte, der die Schwangere verließ, um dem Gold in
Kaliformen nachzujagen, ohne je ein Lebenszeichen zu geben.
Da meine Großmutter Eliza an das Karma glaubt, muß sie
daraus geschlossen haben, daß jene lange Schiffsreise nötig war,
damit sie Tao begegnete, den sie in jeder ihrer Reinkarnationen
wieder lieben würde. »Welch wenig christlicher Gedanke«,
sagte Frederick Williams, als ich ihm zu erklären versuchte,
weshalb Eliza Sommers niemanden brauchte. Meine Großmutter
brachte mir einen abgeschabten Koffer mit, den sie mir mit
einem verschmitzten Zwinkern ihrer dunklen Augen überreichte.
Er enthielt vergilbte Manuskripte, gezeichnet Eine Anonyme
Dame. Es waren die pornographischen Romane, die Rose
Sommers in ihrer Jugend geschrieben hatte, ein weiteres
gutgehütetes Familiengeheimnis. Ich habe sie sehr sorgfältig
und in rein didaktischer Absicht gelesen, zum unmittelbaren
Nutzen für Iván. Dieser vergnügliche Lesestoff - wie konnten
nur einer viktorianischen alten Jungfer solche Frechheiten
einfallen? - und Niveas vertrauliche Offenbarungen haben mir
geholfen, die Scheu zu überwinden, die anfangs ein fast
unüberwindliches Hindernis zwischen Iván und mir bildete.
Gewiß, am Tag des Unwetters, als wir in die Aufführung der
Zarzuela gehen wollten und doch nicht gingen, hatte ich mich
vorgewagt und ihn in der Kutsche geküßt, ehe der arme Mann
sich wehren konnte, aber weiter ging meine Kühnheit nicht,
danach verloren wir kostbare Zeit, weil wir uns mit meiner
ungeheuren Unsicherheit und seinen Skrupeln herumplagten,
denn er wollte mir »nicht den Ruf verderben«, wie er sagte. Es
war nicht einfach, ihn zu überzeugen, daß mein Ruf schon
reichlich angeschlagen gewesen war, bevor er am Horizont
erschien, und es auch weiterhin bleiben würde, weil ich nicht
daran dachte, zu meinem Mann zurückzugehen oder meine
Arbeit und meine Unabhängigkeit aufzugeben, beides Punkte,
die hierzulande ziemlich schief angesehen werden. Nach der
demütigenden Erfahrung mit Diego war es mir unmöglich
erschienen, einem Mann Verlangen oder Liebe einzuflößen; zu
meiner absoluten Ahnungslosigkeit auf sexuellem Gebiet kam
ein Minderwertigkeitskomplex, ich hielt mich für
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