Poseidon - Der Tod ist Cool
Schluchzen überging.
55. Kapitel
Das Knattern der Eisenbahnschienen erschien ihm wie das Ticken des Sekundenzeigers, der sich Stück für Stück in sein Leben fraß. Die Landschaft zog am Fenster vorbei - nicht mehr als ein flüchtiger Augenblick. Sie zerrann in seinen Augenwinkeln zu Schatten.
Frenzel saß im Zug nach Italien und starrte auf sein Spiegelbild im Fenster.
Zwanzig Jahre.
Das Plärren des Mädchens neben ihm und die Schimpftiraden ihrer Mutter erfüllten den Raum.
Es müssen mindestens zwanzig Jahre sein.
Die abgestandene Luft im Abteil vermischte sich mit dem Schweiß der Fahrgäste.
Vielleicht auch dreißig.
Die Enge war unerträglich.
Frenzel registrierte nichts davon.
Gedanklich befand er sich wieder im Badezimmer. Er
sah
sich auf seinen Körper hinab blicken. Er lag gekrümmt und zitternd auf dem Fliesenboden. Das eiskalte Wasser prasselte auf ihn mit der Wucht von Faustschlägen ein. Die Tropfen brannten auf seiner Haut wie Hagelkörner.
Seine Haut.
Er erkannte jede Pore darauf. Jede Narbe. Jeden Fleck.
Und noch etwas anderes.
Etwas Unmögliches.
Unaussprechliches.
Er beobachtete, wie er sich aufrichtete. Auf wackeligen Beinen stand er da und stützte sich an die Wand. Vorsichtig bewegte er sich aus der Dusche in Richtung Waschbecken. Dort angekommen, atmete er einige Male tief durch. Dann drehte er den Kopf.
Frenzel blickte in das Gesicht. Sein Gesicht.
Falten zeigten sich darauf. Falten, die ein Mann in seinem Alter nicht haben konnte.
Nicht haben durfte.
Wie alt bin ich denn nun wirklich?
Geistesabwesend fuhr er mit den Fingern über seine Hand.
Und wie viele Jahre wird mir Falk noch lassen?
Die Frage floss in seinen Schädel wie Säure in einen Glaskolben. Plötzlich rüttelte ihn jemand an der Schulter.
"Haben Sie mich nicht verstanden?"
Frenzel zuckte erschrocken zusammen. Der Zugschaffner stand mit fragendem Blick neben ihm. Frenzel benötigte einen kurzen Augenblick zur Orientierung.
"Entschuldigen Sie bitte, ich bin wohl etwas eingenickt."
"Könnte ich bitte Ihren Fahrschein sehen?"
"Selbstverständlich." Frenzel kramte umständlich in den Innentaschen seiner Lederjacke, bis er das Ticket schließlich in seiner Hand hielt.
"Hier, bitte schön."
"Vielen Dank."
Der Bahnbeamte kontrollierte flüchtig das Papier und reichte es Frenzel zurück.
"Wie lange dauert es noch, bis wir in
Peschiera del Garda
ankommen?"
"In etwas mehr als zwei Stunden müssten wir den Zielbahnhof erreichen." Der Schaffner hatte den Satz noch nicht ganz zu Ende gebracht, als er schon wieder weiter ging und die Fahrscheine der anderen Fahrgäste in Augenschein nahm, die sie ihm teils nervös, teils gelangweilt, entgegen streckten.
Peschiera del Garda.
Zwei Stunden. Endlich.
Frenzel hatte mit seinen Internetanfragen ins Schwarze getroffen. Einige Reisebüros kannten die Herkunft des lateinischen Schriftzuges. Er befand sich eingemeißelt auf dem Sockel einer Statue des Wassergottes in
Riva del Garda
am Wasserkraftwerk
Ponale
.
Sollte dort das große Finale, wie Falk es nannte, stattfinden? Und wie würde es aussehen?
In Frenzels Gehirn lieferten sich die verschiedensten Szenarien heftige Gefechte um die Vorherrschaft. Keines hatte Bestand.
Ging es um eine Botschaft, die Falk an die Menschen richten wollte; etwas Großes, dass seinem genialen und kranken Verstand entsprungen schien? Oder handelte es sich um eine persönliche Angelegenheit zwischen Falk und ihm, etwas, das er noch nicht fassen konnte? Dieses Gefühl beschlich ihn immer öfter. Sicher, durch den Tod seines Bruders wurde es persönlich.
Für ihn.
Aber traf dies auch für Falk zu?
Vielleicht waren beide Aspekte sogar miteinander verwoben.
Das viele Grübeln erhitzte Frenzels Kopf. Er presste seine Wange an die Scheibe des Zugfensters. Die kühlende Wirkung verschmolz mit dem Vibrieren des Wagons und hinterließ einen Moment der Stille in seinem Innern.
In einem anderen Abteil des Zuges saßen Engel und Kleisters. Sie hingen anderen Gedanken nach.
56. Kapitel
Endlich fuhr der Zug nach knapp über sieben Stunden Fahrt mit Verspätung in
Peschiera del Garda
ein. Der Bahnhof befand sich am südlichsten Zipfel des Gardasees,
Riva del Garda
lag aber im nördlichsten Teil. Frenzel hatte also noch ein gutes Stück Strecke vor sich. Zu diesem Zweck wollte er sich später einen Wagen mieten. Nun knurrte erst einmal sein Magen. Er hatte seit dem Frühstück nichts Handfestes mehr zu sich genommen und sein
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