Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Wildfremden in deinem eigenen Erbrochenen gefunden, also bitte.« Sie griff nach dem Umschlag, aber Annette ging ein paar Schritte zurück.
»Was willst du? Warum bist du so scharf auf meine Post?« Kritisch musterte die Tochter ihre Mutter. »Du weißt ganz genau, was hier drinsteht. Und ich soll es nicht erfahren.«
Gudrun zog es vor, zu schweigen. Annette riss den Brief auf, ohne ihre Mutter dabei aus den Augen zu lassen. Gudrun überlegte fieberhaft, was sie ihrer Tochter sagen sollte. Wie viel Wahrheit Annette verkraftete. Andererseits: Was konnte sie schon unternehmen? Sie würde weinen und es hinnehmen. Und noch mehr trinken.
»Anordnung des Zwangsversteigerungsverfahrens?« Fassungslos ließ ihre Tochter das Schreiben sinken. »Was …?« Sie breitete die Arme aus. »Unser Haus?« Annettes Ärger gegen sie war verflogen, das spürte Gudrun. Jetzt war sie nur noch hilflos. Gudrun entschloss sich, die milde Tour zu fahren, dann konnte es ihr vielleicht gelingen, Annette zu befrieden und auf ihre Seite zu ziehen. Dann würde sie keine weiteren Fragen stellen.
»Ich wollte es dir nicht sagen. Ich wollte dich schützen.«
»Wovor?!« Annettes Stimme schnappte über, und ihre Augen quollen fast aus den Höhlen, so weit hatte sie sie aufgerissen.
»Wie sind pleite. Bankrott.« Vorsichtig ging Gudrun näher an ihre Tochter heran.
»Was heißt das?«
»Das heißt, dass wir nichts mehr haben.«
Annette schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber das Haus?«
Jetzt hatte sie Annette erreicht und nahm sie zart am Ellenbogen. »Auch das Haus nicht mehr. Es gehört der Bank.« Sie führte Annette ins Wohnzimmer und setzte diese aufs Sofa, wo noch die Decken und das Kopfkissen lagen, unordentlich und zerwühlt von Annettes unruhiger Nacht.
Ihre Tochter saß zusammengesunken da, schüttelte den Kopf und sah wieder und wieder auf das Schreiben. »Aber Papa … Er hat immer gesagt, es wird mal mir gehören.«
»Trotzdem gehört es jetzt der Bank. Wir mussten ja von irgendetwas leben.«
Nun sah Annette hoch und ihr prüfend ins Gesicht. »Und da hast du Hypotheken aufgenommen? Ohne mit mir darüber zu sprechen? Hast du vielleicht noch meine Unterschrift gefälscht?«
Gudrun hatte ihrer Tochter inzwischen einen Wodka eingegossen und hielt ihr das Glas hin. Aber Annette schüttelte den Kopf, ihre Augen waren schmale Schlitze.
»Du hast alles kaputtgemacht. Du widerliches Stück Mist. Wenn Papa noch leben würde«, zischte sie und ging dann in ihren Teil des Hauses, ohne Gudrun eines weiteren Blickes zu würdigen. Das Schreiben vom Amtsgericht ließ sie auf dem Sofa liegen. Die Verachtung ihrer Tochter tangierte Gudrun nicht weiter. Sie nahm den Brief und wusste, dass ihr keine Zeit mehr blieb. Sie hatte nun zwei Wochen für den Einspruch, und sie musste handeln. Sie ging zum Telefon und drückte die Tasten. Die Nummer hatte sie wohlweislich nicht gespeichert, aber sie kannte die Zahlenkombination auswendig, sie hatte sie allzu häufig gewählt in der letzten Zeit.
»Julius?«
Der Mann am anderen Ende der Leitung antwortete.
»Du musst kommen. Heute noch.«
Gudrun von Rechlin wartete die Antwort nicht ab. Sie legte auf und wappnete sich für das, was zu tun sie jetzt gezwungen war.
4.
»Und? Wie geht’s dir? Da oben?«
Unwillkürlich musste Stifter grinsen. Sein neues Domizil in Bayern als »oben« liegend zu bezeichnen kam nur für einen in Frage: Georg Thalmeier, der sich selbst als »dort unten« lebend begriff. Unten, das war in dem Fall der Tegernsee, keine fünfzig Kilometer südlich von Lohdorf gelegen. Mit Georg »Schorsch« Thalmeier, dem ehemaligen Beamten der Münchener Mordkommission in der Ettstraße und späterem Leiter der Kriminalpolizeiinspektion in Bernau, Brandenburg, verbanden ihn die schicksalshaften Erlebnisse im letzten Sommer. Sie waren sich bei einem Mordfall begegnet, Stifter als Verdächtiger, Thalmeier als Ermittler. Der Fall war deprimierend und traumatisch gewesen und letztendlich nicht ausreichend aufgeklärt worden. Es hatte im Verlauf der Ermittlungen einen weiteren Toten und einen schwerverletzten Polizisten gegeben, und als der Sommer sich zum Ende neigte, hatte Johannes Stifter für sich entschieden, dass er es nicht aushalten würde, länger am Ort des Verbrechens zu leben. Er hatte weit weggewollt, irgendwohin, wo ihn nichts mehr an das Erlebte erinnern sollte. So war er in Lohdorf gelandet. Das mit der Flucht vor den Ereignissen war natürlich eine Illusion gewesen,
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