Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
diesen dann durch die Schlaufen. Er ließ den braunen Ledergürtel einmal durch die Finger gleiten, wie um zu prüfen, ob dieser der bevorstehenden Belastung standhalten würde. Dann stieg er die Stufen hinab, und Gudrun schloss hinter ihm die Stahltür.
6.
Der Wecker klingelte um sechs Uhr dreißig, wie jeden Morgen. Und wie jeden Morgen weckte er Beate Klinger nicht. Denn sie war bereits wach und starrte auf das Ziffernblatt. Die ganze Nacht über hatte sie kein Auge zugemacht, höchstens für ein paar Minuten war sie in einen Dämmerzustand gefallen. Beate dachte an Julius. Er hatte nicht angerufen, nachdem er in Lohdorf angekommen sein musste. Er rief sie immer an, das war eine unausgesprochene Abmachung zwischen ihnen beiden. Er fuhr irgendwohin, und dann rief er sie an. Natürlich. Julius wusste doch, dass sie sich Sorgen machte. Sie hatte den ganzen Abend neben dem Telefon verbracht. Als sie begriffen hatte, dass er sich nicht mehr melden würde, hatte sie sich ihrerseits nicht mehr getraut, bei Gudrun von Rechlin in Lohdorf anzurufen. Vielleicht hatte Julius im Stau gestanden. Vielleicht war er müde geworden und hatte an einer Raststätte ein Nickerchen gemacht. Vielleicht, vielleicht. Jetzt verfluchte sie Julius’ strikte Weigerung, sich ein Handy anzuschaffen. Er hatte gemeint, das verursache unüberschaubare Kosten, und da sie beide ohnehin immer zu Hause waren, sei diese Investition unsinnig. Beate dagegen hatte den Besitz eines Mobilgerätes als ein Stück mehr Sicherheit empfunden. Wenn einem von ihnen etwas geschah, konnte man den Partner umgehend informieren. Heutzutage gab es schließlich kaum noch Telefonzellen. Alssie einmal versucht hatte, an einer dieser modernen Säulen zu telefonieren, hatte der Apparat kein Bargeld akzeptiert, nur eine Telefonkarte. Die, die sie noch besessen hatte, war bereits mehr als drei Jahre alt, aber noch fast voll. Der Apparat hatte die Karte nicht genommen. Die Telefonkarte war unbenutzbar geworden.
Beate rollte sich auf die Seite, stemmte sich auf den linken Ellenbogen und richtete langsam ihren Oberkörper auf – so, wie es ihr die Krankengymnastin gezeigt hatte. Dabei grübelte sie unentwegt über das Verbleiben ihres Mannes nach. Ab welcher Uhrzeit würde sie bei Gudrun anrufen und sich nach Julius erkundigen können? Vor acht? Erst danach? Aber, so beruhigte sie sich, bestimmt würde er sich seinerseits bald melden, so pflichtbewusst, wie Julius war.
Sie hörte Klaus in der Küche herumfuhrwerken. Gleich würde er nach ihr rufen. Klaus geriet schnell aus dem Tritt, wenn etwas vom üblichen Rhythmus abwich. Sie hatte ihm noch gar nicht gesagt, dass sein Papa ihn heute früh nicht zur Arbeit bringen werde, sondern der Shuttle. Die Behindertenwerkstatt hatte einen Fahrdienst eingerichtet, den sie aber nur selten in Anspruch nahmen. Seit Julius die Praxis aufgegeben hatte, fuhr er seinen Sohn selbst, jeden Morgen, und er holte ihn auch wieder ab, jeden Nachmittag. Beate wusste, dass Julius sich an alles klammerte, was nach einer Aufgabe aussah. Er war panisch gewesen, als ihm klar geworden war, dass er nicht länger als Zahnarzt praktizieren konnte. Er hatte sich einiges an Lobbyarbeit aufgehalst, war in diversen Verbänden engagiert und ging regelmäßig zu Treffen mit anderen Pensionisten. Er hatte sich noch an den Gedanken geklammert, dass er Vorträge halten oder wissenschaftlich publizieren könnte, aber er war fachlich nicht auf der Höhe derZeit, und so hatte sich niemand für Julius’ Einlassungen interessiert. Ebenso wenig wie für die Praxis. Es hatte sich kein Nachfolger gefunden. Die Geräte waren zu alt, »schrottreif«, wie der Mann gesagt hatte, der die Praxisauflösung übernommen hatte. Julius hatte gehofft, dass er einen nennenswerten Betrag erlösen konnte, stattdessen konnte er froh sein, dass der Mann nicht noch eine Gebühr verlangt hatte. Es war deprimierend für ihren Mann gewesen.
Ein heftiger Schmerz in der Brust nahm Beate jäh die Luft zum Atmen. Wie eine Messerattacke fühlte es sich an. So etwas war ihr noch nie widerfahren, und sie begann langsam bis zehn zu zählen. Dadurch verschwand der Schmerz allmählich. Beate machte sich aber keine großen Sorgen wegen der Attacke. Sie glaubte nicht, dass diese gesundheitliche Gründe hatte. Sie hatte Angst um Julius, das zerriss sie. Daher rührte der Schmerz. Die Wehmut, wenn sie an ihn dachte. Seine weiche Haut, die übersät war mit Altersflecken und ganz feinen Falten. Seine
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