Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
ihr blieb nur, Gudruns Thesen abzunicken. Diese fuhr auch schon fort, Beate ihre Überlegungen darzulegen.
»Stell dir vor, Julius ist in der Zwischenzeit unversehrt wieder aufgetaucht. Was machst du dann? Dann bist du schuld, wenn sie ihn wegen der Entführung drankriegen!«
Obwohl sie fand, dass diese Möglichkeit sehr unwahrscheinlich war, leuchtete ihr die Schlussfolgerung doch ein. Das war das Letzte, was sie Julius antun wollte. Und Gudrun hatte ja recht: Die Polizei oder der Notarzt oder wer auch immer hätte im Falle eines Unglücks längst mit ihr Kontakt aufgenommen. Aber was war dann passiert? Wo war Julius abgeblieben? Hatte er einen Herzinfarkt bekommen und saß in seinem Auto auf einem Parkplatz, unbemerkt von allen anderen?
Oder war er gar Opfer eines Verbrechens geworden? Horrorbilder eines ausgeraubten und verprügelten Julius, der in irgendeiner Gasse lag, hilflos, stiegen vor ihrem geistigen Auge auf.
»Was soll ich denn jetzt tun?«, fragte Beate unglücklich in den Hörer.
»Halt die Füße still und warte ab. Geh nicht zur Polizei. Vorher rufst du mich an.« Damit legte Gudrun auf. Grußlos. Und überließ Beate ihren panischen Ängsten.
*
Als Johannes Stifter am Novalisplatz seine übliche Pause einlegte und sich mit Butterbreze und Kaffee auf einen Stuhl in der Sonne setzte, fiel ihm das Auto mit dem Frankfurter Kennzeichen sofort auf, das schräg vor dem Geschäft parkte. Er erinnerte sich, was Noah erzählt hatte, und er sah an der Position des Wagens schon, dass der Fahrer Schwierigkeiten beim Einparken gehabt haben musste. Der Jetta stand schief, die Räder weit eingedreht, der hintere rechte Reifen halb auf dem Bordstein. Auf der Gepäckablage lag ein Knirps-Regenschirm, und vom Rückspiegel baumelte ein kleiner Glücksbringer. Ein Polizist aus Filzstücken, von einem Kind gebastelt. Sicherlich vom Enkel, schoss es Stifter durch den Kopf, der sich daran erinnerte, dass Noah den Fahrer des Wagens als Rentner beschrieben hatte. Wobei das bei einem Fünfzehnjährigen relativ war – vermutlich ging auch er mit Ende vierzig schon als Rentner durch.
Auf der heutigen Tour wollte sich Stifter noch die angebliche Riesenvilla von »Edeltraud« in der Pestalozzistraße ansehen, denn die skurrile alte Pflaumendiebin hatte seine Neugier geweckt. Der Briefträger brachte den Kaffeepott zurück in die Bäckerei, erhielt von der Verkäuferin noch ein Gebäckteilchen vom Vortag geschenkt, dann fuhr er in die Wettersteinstraße. An deren anderem Ende kam ihm eine Figur entgegen, die Noah stark ähnelte: hängender Kopf, hängende Schultern, schlurfender Gang. Nur die Haarfarbe unterschiedden einen Teenagerjungen vom anderen, dieser hier trug seine Schüttelfrisur in Blond.
Stifter bearbeitete die Hausnummern 48, 50 und 52, Jelonek, Richter und Sawallisch, bis er kurz vor dem Grundstück der von Rechlins auf die wandelnde Pubertätsdepression traf. Der junge Mann schob ein Damenfahrrad neben sich her und klingelte bei den Rechlins. Stifter machte sich wieder an seinen Packtaschen zu schaffen, neugierig schielte er zum Gartentor der adligen Damen.
Tatsächlich kam Annette von Rechlin in den Garten hinaus, ganz in Weiß mit Perlenkette und frisch gewaschenen Haaren. Man sah ihr bis auf die ausgeprägten Tränensäcke die Alkoholikerin nicht an. Die Frau begrüßte den Jungen herzlich, offensichtlich kannten sie einander, und bedankte sich bei ihm, bevor sie das Rad in Empfang nahm und der Junge davonschlurfte. Als der seine Haare aus dem Gesicht strich, erkannte Stifter in ihm einen von Noahs Freunden und grüßte. Der Name allerdings wollte ihm nicht einfallen. Der junge Mann nickte nur. Dafür hatte Annette von Rechlin den Briefträger bemerkt und warf diesem ein offenes Lächeln zu.
»Haben Sie heute was für mich?«
Stifter blätterte in seinen Sendungen, obwohl er bereits wusste, dass seine Antwort negativ ausfallen musste. Dann schüttelte er bedauernd den Kopf.
»Heute nicht, tut mir leid.«
Annette von Rechlin stellte das Rad an einen hohen Stapel Kaminholz und wandte sich dann wieder zum Gartentor. Sie lächelte, aber Stifter sah nun, dass es sie Mühe kostete. Und dass das Lächeln ihre Augen nicht erreichte. Diese waren gerötet, die Haut darunter grau und faltig. Annette von Rechlin war eine traurige Frau.
»So eine Sendung wie gestern muss ich auch nicht alle Tage haben«, sagte sie und stellte sich zu Stifter an den Zaun.
»Unerfreuliche Nachrichten?«, wagte Stifter vorsichtig
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