Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
»Geil, Alter« oder schlicht »Wahnsinn«.
Stifter hatte sich einen Espresso gekocht, sonst hätte er zu dieser späten Stunde keinen Musikunterricht mehr durchgehalten, er war seit fast zwanzig Stunden auf den Beinen. Aber er war stolz auf seine Art der Aufklärungsarbeit und fand, es lohne sich dafür durchaus, so lange wach zu sein. Am kommenden Tag war Sonntag, und er konnte ausschlafen. Die Nadel kratzte am Ende der LP, und Stifter hob den Arm des Thorens-Plattenspielers sanft von der schwarzen Scheibe.
»Genug für heute. Aber ihr könnt jederzeit wiederkommen. Noah ist ja sowieso meistens da.« Er nickte Lukas verbindlich zu. Mühsam rappelten sich die beiden Jungs hoch, denen die Übermüdung und zu viel Bier und Cannabis die käseweißen Gesichter verzerrten. Kurz bevor Noah die Hütte verließ, hielt Stifter ihn noch mit einer Bemerkung auf.
»Bist du sicher, dass die Damen von Rechlin gestern Besuch bekommen haben? Die Tochter hat mich ganz erstaunt angeguckt, als ich sie darauf angesprochen habe.«
»Klar, Mann«, sagte Noah empört, »ich hab den alten Sack da reingehen sehen! Die Alte hat ihn begrüßt. Gestern Abend.«
»Komisch.« Stifter zuckte mit den Schultern. »Dann hat die Tochter wahrscheinlich nichts davon mitbekommen.«
»Die ist so breit, ey«, ließ sich plötzlich Lukas vernehmen. »Die war gestern bei meiner Mom. Zum Bücherzirkel«, er betonte das Wort, als fasse er einen Seeigel an, »und die war schon wieder so dermaßen hacke, dass sie nicht mehr Rad fahren konnte.«
»Deshalb hast du es ihr heute also gebracht?«, erkundigte sich Stifter. »Ich hab dich gesehen.«
Lukas grinste breit. »Klar, muss ich jedes Mal, wenn sie bei uns ist. Die säuft wie ein Loch.«
»Darum kann sie sich auch nicht erinnern, ob sie Besuch haben, Mann«, setzte Noah hinzu. »Ich sag ja, die sind alle gaga da oben.«
Damit zogen die beiden auf wackeligen Beinen zu den Resten des Lagerfeuers, das noch glühte und um das nur noch halb so viele Leute saßen wie noch vor einer Stunde. Schlagartig war Stifter deprimiert. Mit dem Gespräch über die Rechlins hatte der bis dahin friedliche Abend eine traurige undunerfreuliche Note bekommen. Er beschloss, sich ins Bett zu legen, die dünne Decke über den Kopf zu ziehen und beim Einschlafen leise Miles Davis zu hören.
*
Sie hörte das Poltern auf der Treppe gegen drei Uhr früh. Sofort war Gudrun von Rechlin wach. Sie schob die Decke beiseite, setzte sich auf und lauschte aufmerksam ins Dunkel hinein. Ihr Herz klopfte laut und schnell, aber sie kannte keine Angst. Keiner der beiden Männer konnte es sein, weder Julius noch der Banker. Oder sollte dieser sich befreit haben? Sie schlüpfte in ihre Strickjacke und griff nach dem Knotenstock, der immer an ihrem Bett stand. Morgens kam sie oft nicht von alleine hoch, sie war so eingerostet, dass sie sich aufstützen musste.
Nun hörte sie schwaches Gemurmel vor ihrer Tür und wusste, dass sie den Stock nicht als Waffe würde einsetzen müssen. Sie riss die Tür auf und blickte auf Annette hinab, die auf dem obersten Absatz der Treppe kauerte. Es war dunkel im Treppenhaus, und Annette, voll wie eine Haubitze, war bei dem Versuch, in den ersten Stock zu gelangen, gestolpert. Jetzt sah sie von unten zu ihrer Mutter auf, die graublonden Haare hingen ihr wirr ins Gesicht.
»Was willst du hier?« erkundigte sich Gudrun ungeduldig. »Ich schlafe, und du gehörst auch ins Bett. Drüben bei dir.«
»Wo ist mein Geld?« Annettes schwere Zunge verhinderte eine klare Artikulation. Mühsam versuchte ihre Tochter, sich am Treppengeländer hochzuziehen.
»Ich weiß nicht, wovon du redest.« Gudrun versteifte sich. Sie wollte sich nicht auf diese Diskussion einlassen. Jahrelangwar es Annette egal gewesen, woher das Geld kam und wie viel es war. Sie hatte von Geburt an welches gehabt, und sie musste niemals dafür arbeiten. Es hatte sie nicht interessiert, und deshalb hatte sie weder von Volkmars Zockereien noch von der Pleite mit den Fonds etwas mitbekommen. Aber seit einiger Zeit brachte sie immer wieder das Gespräch auf ihr Erbe. Gudrun erstickte jeden Ansatz im Keim. Sie log, beschwichtigte und wehrte ab. Aber Annette begann immer wieder danach zu fragen, wo ihr Erbe sei.
»Mein Geld«, wiederholte Annette schleppend und wurde laut, »mein Erbe, von Papa, mein Haus … wo ist das alles? Was hast du damit gemacht?« Sie griff nach der Strickjacke ihrer Mutter, die unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Gudrun
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