Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
als auch für den Musiker, aber er war nicht mehr in der Lage gewesen, sich rein theoretisch damit zu beschäftigen. So schob er seine Doktorarbeit auf die lange Bank. Seinem Doktorvater war es egal, es war ein ehemaliger Kommilitone aus Berliner Tagen, der mittlerweile Dekan in Freiburg war und ihm gänzlich freie Hand ließ. Da Stifter nun der feste Rahmen für die Zigarettenpausen fehlte, rauchte er haltlos, ganz nach Gusto. Und gestern war er regelrecht gierig gewesen.
Nun war er nicht ganz auf der Höhe und fühlte sich seinem Gast gegenüber unbehaglich, der lässig im Schatten des Holunderbuschessaß und einen großen Schluck von seinem eiskalten Bier nahm. Danach leckte Thalmeier den weißen Schaum von seinem wuchernden Schnauzbart und musterte Stifter ungeniert.
»Gut schaust aus«, konstatierte der alte Mann schlussendlich. »Gesund. Viel zu gesund für einen Philosophen.«
Stifter musste grinsen. »Bin kein Philosoph. Nur Briefträger. Einfach Briefträger.«
Thalmeier nickte wohlwollend und prostete Stifter zu. Dieser hob seine Flasche Mineralwasser und besah sich den ehemaligen Polizeibeamten genauer. Er hätte das Kompliment zurückgeben können, denn auch Thalmeier sah weniger grau und mitgenommen aus als noch vor einem Jahr in Brandenburg, wo sie sich kennengelernt hatten. Es war ein Rekordsommer gewesen, die Hitze im sandigen Bundesland unerträglich, ebenso wie der Fall, der sie zueinandergeführt hatte. Damals hatte Thalmeier trotz Temperaturen von über dreißig Grad beständig einen grauen Wolljanker über dem karierten Hemd getragen. Stifter hatte gedacht, dass Thalmeier mit diesem verwachsen sei, er hatte ihn niemals ohne diese bayerische Rüstung gesehen. Heute aber trug Thalmeier eine ganz andere Kluft. Er war gekleidet, als wolle er später noch auf die Wies’n, denn er hatte allen Ernstes eine dunkelbraune Trachtenlederhose an. Diese war offensichtlich ziemlich alt und wurde häufig getragen, denn sie glänzte an vielen Stellen speckig. Dazu hatte Thalmeier ein helles Hemd aus schwerem Leinen gewählt, ein buntes Halstuch, wollene Strümpfe und Haferlschuhe. Er hätte dem Katalog der bayerischen Tourismuswerbung entsprungen sein können, wenn er nicht gar so authentisch gewirkt hätte.
Thalmeier fing seinen Blick auf, zeigte lächelnd an sich herab und sagte zufrieden: »Da schaust, gell?«
Stifter musste lachen und nickte dann.
»Bin halt dahoam, verstehst.«
Johannes Stifter verstand.
Während Thalmeier sein Bier trank, erkundigte er sich bei Stifter, wie er sich in Lohdorf fühle, wie er mit den Kollegen zurechtkomme, ob er seine Datsche in Germerow verkauft hatte. Auf Nachfragen von Stifter antwortete er allerdings ausweichend, so dass dieser lediglich herausfand, dass Thalmeier wieder in sein Haus gezogen war und dort allein mit einer Katze lebte. Mit dem Brandenburger Kollegen Karl Galicek pflegte Thalmeier engen Kontakt, dieser hatte sogar angekündigt, im Herbst mit Frau und beiden Kindern Urlaub am Tegernsee zu machen. Der alte Kommissar freute sich darüber, er selbst hatte keine Kinder und zur Familie des Kollegen große Zuneigung gefasst.
Nachdem Kyra in den Garten gekommen war und Stifter und Thalmeier zum Essen eingeladen hatte, was diese jedoch ablehnten, brachen die beiden Männer zu einem Rundgang durch Lohdorf auf. Thalmeier hatte sich gewünscht, den Ort zu besichtigen, in Wahrheit aber, so mutmaßte Stifter, wollte sich der alte Bulle ein Bild von dem seltsamen Mutter-Tochter-Paar machen, von dem ihm der Postbote erzählt hatte. Stifter bemühte seine ganze argumentative Kraft, um den alten Mordermittler davon zu überzeugen, dass die Damen von Rechlin zwar seltsam, aber in keiner Weise kriminell seien. Und er nicht die Absicht habe, weiterhin in deren Privatleben herumzuschnüffeln. Thalmeier nickte, klopfte Stifter auf die Schulter, und dieser erkannte, dass sich im Kopf des Älteren eine Idee festgesetzthatte, die der so schnell nicht aufgeben würde – ganz egal, was Stifter sagte.
Das ungleiche Paar bummelte durch den Ort, der bis auf die Eisdiele wie ausgestorben dalag. Ein heißer Sonntag im September, alle Welt war an einem der vielen Seen und im Biergarten. Nur an der Eisdiele, da sammelten sich die Genussradler, Familien mit Kleinkindern und Teenager, die den sonntäglichen Ausflügen entwachsen waren – darunter auch Rubina Lanz mit ihrer Clique. Sie bemerkte Stifter nicht, weil sie und ihre beiden Freundinnen die Köpfe zusammensteckten und in
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