Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
versuchte, Annettes Finger von ihrer Jacke zu lösen, aber diese hatte sich so festgekrallt, dass es unmöglich war, sich aus dem Klammergriff zu befreien. Jetzt zog Annette mit erstaunlicher Kraft ihre Mutter an der Strickjacke näher zu sich heran. Gudrun roch ihren Atem. Eine Mischung aus Pfefferminz und Schnaps. Sie hatte sich also heute Nacht noch nicht über die Kloschüssel gehängt.
»Die Zwangsv…v…ver…, der Brief neulich«, lallte Annette ihr ins Gesicht, »was heißt das? Heißt das, alles ist weg?«
Annette wankte, ihre Augenlider flatterten, aber sie hielt sich an Gudrun fest und schaffte es, ihren Blick nicht abzuwenden, sondern ihrer Mutter in die Augen zu blicken.
»Dein Vater hat alles verspielt.« Gudrun hatte sich zur Offensive entschlossen. Nur so konnte sie die Oberhand über die unerfreuliche Situation zurückgewinnen. Sie würde Annette vor den Kopf stoßen, den heiligen Vater vom Thron schubsen, auf den die Tochter ihn gestellt hatte. Warum musste sie die blöde Kuh schonen? Annette durfte sie nichtbelästigen, sie sollte weitersaufen und sich nicht einmischen. Wenn sie ihr jetzt sagte, dass nichts mehr von ihrem Vermögen übrig war, würde diese Versagerin vielleicht von ihr ablassen. Sich noch ein paar Tabletten einwerfen und wegdämmern. Gudrun von Rechlin hielt dem Blick Annettes mühelos stand und fuhr fort. »Volkmar hat alles, was wir besaßen, verjuxt. Wir haben ein Leben auf Pump geführt. Uns gehört nichts mehr. Auch nicht das Dach über unserem Kopf.«
Annette starrte sie an, und Gudrun erkannte an dem tumben Blick, dass das blöde Hirn ihrer Tochter nicht imstande war, diese Information zu verarbeiten. Deshalb fühlte sie sich herausgefordert, noch eins draufzusetzen.
»Du hättest nicht von Jürgen weggehen sollen. Er hätte dich durchversorgt. Trotz seiner Affären. Aber du musstest ja so empfindlich sein!«
Es ging so schnell, dass ihre Tochter sie an der Jacke zog und die Treppe hinunterstieß, dass Gudrun sich bereits einmal seitwärts überschlagen, sich schmerzhaft das linke Bein verdreht hatte und auf dem vierten Treppenabsatz von oben zu liegen kam, noch bevor sie verstand, was gerade passierte.
8.
»Schee hast du’s hier.«
Stifter zuckte zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass der massige Exkommissar neben seinem Liegestuhl stand, obwohl er einen Schatten auf den Postboten warf. Er musste wohl wieder eingeschlafen sein.
»Herr Thalmeier! Das ging aber schnell jetzt.«
»Ja mei.« Der alte Polizist sah sich nach einer Sitzgelegenheit um, und Johannes beeilte sich, sich aus dem Liegestuhl zu wuchten, um seinem Besucher einen Stuhl anbieten zu können. Er holte einen der bequemen alten Holzstühle, die Kyra und Andreas neben dem Geräteschuppen gestapelt hatten, klappte ihn mühsam auf und stellte ihn unter den Holunderbaum in den Schatten. Thalmeier mochte die Sonne nicht, soweit er sich erinnerte. Der massige Bayer dankte stumm mit einem Kopfnicken und ließ sich in den Stuhl fallen, aus der Hosentasche holte er ein weißes Stofftaschentuch und wischte sich damit über die Stirn.
»Hast was zum Trinken?«, erkundigte er sich bei Stifter, und der graue Schnurrbart dehnte sich über dem lächelnden Mund in die Breite.
»Ein Helles?«, fragte Stifter, und Georg Thalmeier quittierte dies mit einem Lächeln.Stifter war noch nicht ganz wach gewesen, als heute Morgen der Anruf kam. Thalmeier hatte rundheraus vorgeschlagen, dem Briefträger einen Besuch abzustatten, weil er sehen wollte, wie sich das Nordlicht in Lohdorf eingerichtet hatte. Es war Stifter nicht wirklich recht gewesen, er war schon übellaunig aufgewacht, mit einem wattigen Schädel. Aber der Vorschlag war von Thalmeier in einer Weise vorgebracht worden, die keinen Widerspruch duldete. Also fügte Stifter sich zähneknirschend. Gestern war es zu spät für ihn geworden, er hatte zu viele Helle getrunken und mehr geraucht, als er üblicherweise rauchte. Fünf Selbstgedrehte »Schwarzer Krauser«. In der Regel rauchte er zwei: eine um halb neun, bevor er anfing, an seiner Promotion zu arbeiten, und eine um eins, kurz bevor er ins Bett ging. Nur dass er gar nicht mehr an seiner Promotion arbeitete. Er hatte seit den Erlebnissen in Germerow die Lust daran verloren. Die Arbeit, die einen Zusammenhang zwischen den Schriften Michel Foucaults und der Musik von Miles Davis herstellen sollte, war ihm überflüssig vorgekommen. Zwar hegte er nach wie vor eine große Sympathie sowohl für den Philosophen
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