Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
geradezu fürstlich leben. Wie oft hatte sie sich zu ihm geträumt, in ihrer Vorstellungentsprach sein ungarisches Bauernhaus auf dem Land dem Gut ihrer Eltern in Ostpreußen. Sie stellte sich vor, wie sie gemeinsam ausreiten würden, wie damals. Aber es war nicht 1996 in Budapest, im Hotel Boscolo. Es war auch nicht 1943 in Jäskendorf. Es war 2011, und sie war dreiundachtzig Jahre alt. Sie hatte nichts, mit dem sie einen Mann beeindrucken konnte, sie war alt und arm wie eine Kirchenmaus. Aber ihr Herz flatterte in ihrer Brust wie das eines jungen Mädchens, und sie spürte ihre Wangen erröten, als sich die Fahrertür des Mercedes öffnete und Harald aus dem Wagen stieg. Sie sah nicht, dass sein rechtes Auge von einem weißen Schleier getrübt war und starr in eine andere Richtung blickte als sein linkes Auge. Sie sah nicht, wie steif sein Rücken war, und nicht, wie gichtig seine Finger. Gudrun von Rechlin sah nur, wie der großgewachsene Mann seine Arme zu beiden Seiten ausstreckte, als er auf sie zukam, und dass sein strahlend blaues Auge sie voller Liebe anlachte. Sie öffnete ihm das Gartentor und sank in seine Arme, ihr weißer Kopf an seiner breiten Brust.
»Wie ist das passiert?« Harald deutete auf ihre Verletzungen. Sie saßen in ihrer Küche, sie hatte Kaffee für ihn gekocht, richtigen Kaffee und eine Suppe aus Roter Bete und selbstgezogenen Kartoffeln.
»Ich bin die Treppe hinuntergefallen«, erwiderte sie, denn das war nur halb gelogen und in ihrem Alter glaubhaft. Dabei vermied sie es, ihm in die Augen zu blicken. Die Platzwunde auf dem Wangenknochen hatte sie mit einer Salbe behandelt, aber die Wunde und die Prellung, die sie umgab, waren deutlich zu sehen. Außerdem trug sie einen Stützverband an ihrem rechten Bein, welches sie sich beim Sturzverdreht hatte. Wie durch ein Wunder war sie nicht schlimmer verletzt, sie hätte sich das Genick oder die Wirbelsäule brechen können. Aber sie war zäh wie Leder und hatte lediglich Prellungen und blaue Flecken davongetragen. Als sie sich einigermaßen berappelt hatte, war sie auf allen vieren die Treppe hochgeklettert und hatte sich ins Bett geschleppt, ohne sich um ihre Verletzungen zu kümmern. Der Schock darüber, dass Annette imstande war, ihr Gewalt anzutun, hatte noch eine Weile nachgewirkt, schließlich aber war sie vor Schmerzen und Anstrengung in den Schlaf gefallen. Erst am nächsten Morgen hatte sie im Badezimmer ihre Verletzungen begutachtet und verarztet. Annette aber, die nachdem sie ihre Mutter geschubst hatte, an dieser vorbeigestürmt war, war die letzten Tage über weder zu sehen noch zu hören gewesen. Sie war Gudrun aus dem Weg gegangen, und das war auch besser so gewesen.
»Wo ist dein Gefangener?«, erkundigte sich Harald, während er auf die Suppe pustete. Sie war dankbar, dass er nicht weiter nach dem Sturz fragte.
»In einem Kellerraum«, gab Gudrun zur Antwort. »Man kann ihn nicht hören, selbst wenn er schreit. Dieser Keller liegt am weitesten entfernt von Annettes Wohnung. Es sind zwei Brandschutztüren dazwischen.«
Harald zog die Augenbrauen hoch. Sie waren weiß und buschig, und Gudrun fand, dass sie seinem faltigen Gesicht eine soignierte Note gaben. »Deine Tochter wohnt hier? Ich dachte, sie ist verheiratet?«
»Sie war verheiratet. Aber ihr Mann hat sie betrogen.«
»Der Schönheitschirurg?«
Gudrun nickte. Sie hatte Harald häufig geschrieben, natürlich heimlich, damit Volkmar nichts mitbekam. Dass ihreTochter aber in jeder Hinsicht gescheitert war – geschieden, kinderlos und eine tablettensüchtige Säuferin –, das hatte sie verschwiegen. Aus Scham, dass sie nichts Besseres hervorgebracht hatte. Natürlich schob sie die Schuld auf Volkmar, sie wusste, hätte sie Harald geheiratet, damals, so wie es geplant war, hätte sie heute zwei Söhne und mehrere Enkel. Die Söhne wären Mediziner oder Juristen und erfolgreich in ihren Berufen …
»Warum lebt sie bei dir?«, unterbrach Harald ihre Gedanken und sah sie über den Tisch hinweg prüfend an. Gudrun nahm eine seiner Hände in ihre. Die Hand war rau, hatte Schwielen, die Finger waren steif und gebogen wie Krallen. Dennoch liebte sie seine Hände, sie waren sehnig und muskulös. Sie wusste, dass Harald die Sache mit diesen zupackenden Händen zu Ende bringen würde.
»Weil sie schwach ist. Sie ist nicht lebensfähig ohne mich. Sie ist unwert.«
Mit der freien Hand fasste der alte Mann über den Tisch und strich ihr eine lange weiße Strähne, die sich
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