Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
und ihm gratuliert, was ihn beinahe zu Tränen gerührt hatte. Überhaupt wurde er rührseliger mit dem Alter, Thalmeier fand, er wurde langsam ein sentimentaler Depp. Aber er konnte nicht umhin, sich einzugestehen, dass er sich im Kreise jüngerer Leute und Kinder sehr wohl fühlte, wohler oft als mit anderen alten Trotteln seines Kalibers. Den gestrigen Tag jedenfalls hatte er sehr genossen, bei Johannes Stifter in Lohdorf. Die Familie Lanz war ihm überaus sympathisch, und er hatte sich über das rege Interesse des Teenagers Noah an seinen Berufsgeschichten gefreut. Wenn es nach ihm ginge, würde er öfter zu Besuch kommen. Gesetzt den Fall, das passte Stifter in den Kram. Der hatte ihn leider nicht zu einem weiteren Abstecher motiviert, sondern sich vage »bis dann mal« verabschiedet. Aber vielleicht, so dachte Thalmeier, entwickelten sich die Dinge in Lohdorf doch noch so, dass er gebraucht würde. Seine Intuition hatte ihm jedenfalls nichts Gutes verheißen beim Anblick der mürrischen Alten mit der Prellung im Gesicht, zusammen mit den Schilderungen Stifters vom Alkoholismus der Tochter. Er würde ein Auge darauf haben.
*
Stifter begann seinen Dienst an diesem Vormittag ausgeruht und gutgelaunt. Der Himmel war heute bedeckt, und es fiel sommerlicher Nieselregen. Er mochte dieses Wetter. Es war jetzt wochenlang heiß und trocken gewesen, der Himmel hatte jeden Tag aufs Neue weiß-blau gestrahlt, und er war dieser demonstrativen bayerischen Schönwetterheiterkeit langsam überdrüssig gewesen. Nun hatte er sich das leichte Regencape übergestreift und genoss das Gefühl des warmen sanften Regens auf dem Gesicht. Dass Regen schön mache, behauptete seine Mutter heute immer noch, Jahrzehnte nachdem man den sauren Regen thematisiert hatte. Das hatte sich bei ihm gegen jede Vernunft so festgesetzt, und obwohl er auf einen Zuwachs von Schönheit bei sich keinen Wert legte, war er doch empfänglich für die Vorstellung, dass der Regen seiner Haut guttat.
Als er an der Stelle vorbeikam, wo er das Krötenpärchen aus der Sonne gerettet hatte, bremste Stifter und stieg vom Rad. Er schlug sich ein paar Schritte ins Gehölz, bis er den schwarzen kleinen Tümpel erreichte, an dem er die Amphibien ausgesetzt hatte. Er ging in die Hocke und betrachtete das Wasser. Er hatte gehofft, dass er das dicke Krötenweibchen und sein schwächliches Männchen in trauter Zweisamkeit am Tümpel entdeckte, aber bis auf die Regentropfen, die das Wasser in Schwingung versetzten, ließ sich keine Bewegung ausmachen. Rund um die hohen Gräser, die das Wasser einfassten, sah er allerdings frisch aufgewühlte Grassoden; die darunterliegende dunkle Erde machte den Eindruck, als hätte sie jemand gewaltsam umgegraben, und Stifter mutmaßte, dass hier unlängst ein Wildschwein nach Nahrung gewühlt hatte. Er lauschte in die Stille des feuchten Waldes, konnte jedoch ebenso wenig Tierlaute ausmachen, wie er Lebenim Wasser entdeckt hatte. Also ging er zurück zu seinem Rad und klappte den Ständer hoch. Jetzt raschelte es plötzlich unter dem Laub am Tümpel. Ein Tier brachte sich schnell in Sicherheit, nachdem es offenbar regungslos ausgeharrt hatte, um nicht von Stifter entdeckt zu werden. Nur zu gerne bildete sich Stifter ein, dass es die von ihm geretteten Kröten waren. Er schob sein schweres Postfahrrad an, setzte sich mit Schwung auf den Sattel und trat kraftvoll in die Pedale. Gerade mal hundert Meter war er gefahren, als er schon wieder abbremsen musste. Der bronzefarbene Porsche Cayenne des Herrn Regmeier versperrte ihm die Einfahrt in die Chamissostraße, und kaum kam er vor dem Auto zum Stehen, öffnete sich dessen Tür, und der Besitzer stieg aus.
»Ich habe auf Sie gewartet«, kam ihm Herr Regmeier forsch entgegen.
»Auf mich?« Stifter war überrascht. Aber noch bevor er darüber nachdenken konnte, was Regmeier von ihm wollte, offenbarte sich dieser.
»Der Geburtstag meiner Frau steht an. Ich habe etwas bestellt und wollte nicht, dass sie davon erfährt. Wenn Sie mir vielleicht schon mal unsere Post geben könnten, dann schau ich, ob es dabei ist.« Herr Regmeier lächelte starr, als er seine Bitte an den Postboten richtete, und es war ein freudloses Lächeln, als koste es ihn große Mühe, freundlich zu sein. Für Stifter aber war es kein Problem, Herrn Regmeiers Forderung zu entsprechen, er hatte seine Sendungen stets abschnittweise mit Gummibändern gebündelt und konnte mit wenigen Handgriffen die Post für die Familie
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