Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
irgendwo zwei Garnituren Leibwäsche bekommen konnte. Vielleicht gab es bei Tengelmann einen Tchibo-Shop.
Annette von Rechlin hatte sie heute Morgen gottlob nicht zu Gesicht bekommen. Angesichts der weiteren leeren Flaschen in der Küche auch kein Wunder. Sie hatte ihr einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen, aus dem hervorging, dass sie nach Hause, nach Frankfurt, gefahren war. Sie hatte sich bei ihrer Gastgeberin für die Unterkunft bedankt und ihr alles Gute gewünscht. Dann war sie leise aus der Einliegerwohnung geschlichen. Nebenan bei Gudrun war es totenstill gewesen, und Beate hatte ein Ziehen in der Brust gespürt, als sie daran dachte, dass Julius sich vielleicht dort aufhielt. Nachts, als sie mit offenen Augen dagelegen und die ganze Situation überdacht hatte, war sie zu dem Entschluss gekommen, dass Julius bei Gudrun war. Dass die beiden diesen Banker unter Druck setzten, bis er ihnen sein Vermögen überschrieben hatte. Gewiss hatte Gudrun Julius verboten, mit ihr Kontakt aufzunehmen, weil sie es für zu gefährlich hielt. Vielleicht hatte sie Angst, dass das Telefon von Beateabgehört werden könnte oder sonst etwas Idiotisches. Und dass Julius den Anweisungen von Gudrun Folge leistete, konnte sie sich nur damit erklären, dass er Beate und Klaus nicht mit hineinziehen wollte. Denn dass Julius hier in Lohdorf war, dass es tatsächlich sein Trenchcoat war, den sie an der Garderobe gesehen hatte, dessen war sie nun gewiss. Nachdem sie am Novalisplatz ihr Auto gesehen hatte. Mit dem Regenschirm auf der Gepäckablage und dem Schutzpolizisten, den Klaus als kleiner Junge aus Filz gebastelt und Julius einmal zu Weihnachten geschenkt hatte. Es war ihr Schutzpatron, der immer über sie wachen sollte, damit ihnen nichts passierte.
11.
Der alte Mann kniete sich direkt vor ihn hin, damit sie beide auf Augenhöhe waren. Er konnte das milchig gelb getrübte Auge jetzt genauer betrachten. Es bewegte sich, aber es wirkte träger als das gesunde. Dieses war von klarem, hellem Blau und blickte ihn durchdringend an. Der alte Mann roch säuerlich. Er hatte geschwitzt. Vermutlich hatte es ihn all seine Kräfte gekostet, den Toten aus dem Keller zu schleppen.
»Sie wissen, dass wir Sie nicht lebend gehen lassen können?«
Ja. Das wusste er. Seine Gedanken kreisten um nichts anderes. Aber er sperrte sich gegen die Angst, gegen die Todespanik. Er wollte nicht zulassen, dass er einknickte, als winselndes Etwas in diesem Keller krepieren musste. Deshalb erwiderte er nun den stahlblauen Blick. Er würde nicht ausweichen. Er war stark. Er würde kämpfen. Er war ein winner .
Der Zyklop streckte eine Hand aus und packte ihn am Kinn. Er drehte das Gesicht direkt zu sich und beugte sich noch näher zu ihm. Das blaue Auge entließ ihn nicht aus seinem Blick. Er musste würgen. Sein Magen krampfte sich zusammen, in Intervallen, die immer schneller aufeinanderfolgten. Gleich würde er dem Alten ins Gesicht kotzen.
»Antworte mir! Weißt du, dass wir dich töten müssen?«
Er nickte. In seinem Mund sammelte sich saurer Speichel, der Schweiß brach ihm aus, und seine Arme, von denen dereine an den Heizkörper gekettet und der andere zum Schutz vor dem Brustkorb verschränkt war, zitterten. Aber er brachte es fertig und nickte. Antworten konnte er nicht, er hätte kein Wort herausgebracht. Er konnte sich nicht erinnern, wann er jemals einem anderen Menschen körperlich so nah gewesen war und insbesondere: so ausgeliefert. Dieser Alte hatte eine Grenze überschritten, er hatte seinen magischen Kreis durchbrochen und fixierte ihn mit seinem Klammergriff. Die Kralle am Kinn drückte fester zu, es tat weh. Aber schlimmer war der Schmerz, den er innen fühlte. In sich drin. Sein Stolz. Seine Unnahbarkeit. Seine Stärke. Der Zyklop hatte das alles zerstört. Er hatte ihn gebrochen. Mit einem Schritt, den er zu weit gegangen war. Die Tränen schossen ihm in die Augen. Er konnte es nicht verhindern. Er weinte. Die warme Flüssigkeit lief ihm übers Gesicht, und der Alte zog abrupt seine Hand weg.
»Schon gut«, sagte er, und seine Stimme hörte sich plötzlich viel weicher an, weniger metallisch, »schon gut. Wir werden sehen, was sich machen lässt.«
Er nickte. Er war erschöpft. Er wollte allein sein. Er hätte alles akzeptiert, auch den Tod.
Der Zyklop stand mühsam auf, und er konnte hören, wie die Gelenke des alten Mannes knackten. Der sah ihn noch einmal an, besorgt, wie ihm schien, und öffnete dann die Tür. Jetzt
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