Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
sie belog. Julius war hier angekommen, aber wo war er jetzt? Warum hatte er sich nicht bei ihr gemeldet? Beates Herz krampfte sich zusammen, als sie daran dachte, dass Julius vielleicht nebenan war, bei Gudrun von Rechlin. Dass er etwas vor ihr verbarg. Dass er gemeinsame Sache mit der Frau machte. Dass die beiden den entführten Banker vielleicht umgebracht haben könnten und dass Julius sich deshalb nicht traute, mit Beate Kontakt aufzunehmen. Was befand sich hinter der Wand, die ihr Lager von Gudrun von Rechlins Wohnbereich trennte?
*
Zum ersten Mal war er richtig down. Die ganzen Stunden hier im Keller hatte er sich bemüht, sich aufzubauen, zu motivieren, fit zu halten und sich nicht in die beschissene Lage, in der er sich befand, zu fügen. Er hatte kein Opfer sein wollen. Nicht jammern und klagen, sonst, so seine Angst, hätte er angefangen zu glauben, seine Lage sei hoffnungslos. Und dann hätte er sich vielleicht nicht mehr gewehrt. Oder den Zeitpunkt verpasst, an dem er sich befreien konnte. Ja, er konnte von sich behaupten, dass er richtig tough geblieben war. Aber seit der Greis mit dem blauen Auge aufgetaucht war, war es mit seiner Beherrschung vorbei. Er hatte den Mann angesehen und gewusst, dass er seinen Meister gefunden hatte. Warum, konnte er nicht sagen. Es war ein Gefühl, Intuition. Denn eigentlich war er genauso ein armer Alter wie die Frau und der andere. Aber von ihm ging eine Bedrohlichkeit aus, die ihm sofort einen Schauer über den Rücken gejagt hatte. Er hatte versucht, dem Blick aus dem blauen Auge standzuhalten, aber er hatte es nicht geschafft. Dieser große alte Mann war zu allem fähig, das hatte er im Moment der Konfrontation gewusst. Er hoffte nur, dass er seine Angst hatte verbergen können. Er wollte nicht, dass seine Entführer merkten, dass er nicht mehr so unbeugsam war wie zu Beginn.
Er setzte sich wieder auf die Unterschenkel, legte die Handflächen auf den Boden und versuchte, sich zu erden, zu zentrieren. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Stattdessen wurde ihm schwarz vor Augen und schwindelig. Er hatte kaum etwas gegessen, zuletzt den Apfel, den die Alte ihm vorhin heruntergebracht hatte, das machte sich nun doch bemerkbar, nach wie vielen Tagen? Vier, fünf, sechs, einer Woche? Er hatte das Zeitgefühl verloren, so schnell schon. Seine Breitlinghatten sie ihm offenbar abgenommen, als er noch bewusstlos gewesen war, und er hatte, seit er aufgewacht war, versucht, sich vorzustellen, wie lang ungefähr eine Stunde dauerte, und dann hatte er die Stunden gezählt. Aber wenn er einschlief, war er aus dem Tritt, hatte keine Orientierung darüber, wie lange er weg gewesen war. Waren es Stunden oder nur Minuten? Da der Keller kein Fenster hatte und die Alte die Neonröhre immer brennen ließ, konnte er Tag und Nacht nicht auseinanderhalten. Er hatte sich damit beholfen, dass er versuchte, ihre Kleidung zu unterscheiden. Vor ein paar Tagen jedenfalls war der andere alte Mann zu ihm gekommen. Der Ängstliche. Aber den hatte er besiegt. Davon war er fest überzeugt. Er hatte den Kampf gewonnen. Zu Beginn hatte er noch triumphiert, aber je länger die Leiche des Alten da vor ihm auf dem Boden gelegen hatte, desto mehr fühlte er sich davon gestört. Der Leichnam fing an, übel zu riechen. Er bildete sich ein, dass der tote Rentner schon die Luft verpestete. Auf alle Fälle hinderte er ihn daran, sich zu konzentrieren. Mental war die Gegenwart der Leiche ein Problem.
10.
Dass es draußen regnete, wusste Georg Thalmeier, als Mizzi um halb sechs zu ihm ins Bett krabbelte. Der Kater putzte sich noch sorgfältig, bevor er Thalmeier seinen nassen pelzigen Rücken an die Wange drückte und sich wohlig zusammenrollte. Thalmeier warf einen Blick auf die Uhr und drehte sich auf die andere Seite. Dabei drückte er seinen Rücken gegen den des Katers, denn wenn er seinen Teil vom Bett nicht deutlich verteidigte, würde sich der renitente Kerl nach und nach derart breitmachen, dass Thalmeier nur mehr ein schmaler Streifen bliebe. Er hatte Mizzi vom Nachbarn geschenkt bekommen, kurz nachdem er in sein Haus zurückgekehrt war. In der irrigen Annahme, das kleine Tigerkätzchen sei ein Mädchen, hatte der alte Mann es Mizzi getauft, um dann einige Wochen später festzustellen, dass das Tier überall im Haus seine Marken setzte, so dass es sich nur um einen Kater handeln konnte. Eigentlich hatte Thalmeier sich einen Hund anschaffen wollen, damit er zu einer Regelmäßigkeit im Tagesablauf
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