Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
welch gewagten Plan sie sich eingelassen habe, aber als sie ihm ihre finanzielle Not geschildert und erklärt hatte, dass der einzige Weg, der Obdachlosigkeit zu entkommen war, dass der Mann im Keller ihr sein Vermögen überschrieb, hatte er nicht mehr lange debattiert. Außerdem hatte sie ihm eine Beteiligung in Aussicht gestellt. Er konnte doch nun Julius’ Anteil haben. Beate hatte schließlich kein Anrecht mehr auf das Geld, sie hatte sich weder an dem Plan noch an der Entführung beteiligt. Klaus war der Einzige, der in Gudruns Augen Anspruch hätte erheben können, aber der hatte gar nicht kapiert, wozu ihn sein Vater angestiftet hatte, und natürlich war er zu blöd, um Julius’ Anteil einzufordern. Insofern war es ein Glück, dass er behindert war.
Von dem Geld hatte Harald nichts wissen wollen, er war gekommen, um ihr zu helfen. Aber wenn erst alles über die Bühne gegangen war, würde sie es noch einmal ansprechen.
Harald fasste nun mit beiden Händen Julius’ Fußgelenke samt Decke und schickte sich an, die Steintreppe rückwärts hochzugehen. Er wollte den Körper die Treppe hinaufziehen, Gudrun sollte versuchen, unten Kopf und Schultern etwas anzuheben und zu stützen. Sie hatten ein Seil benutzt, um die Decke festzuzurren. Die Totenstarre war vorüber, die Leiche roch durchdringend. Gudrun erinnerte sich an die Leichen, die sie in ihrem Leben schon gesehen hatte. Es waren nicht wenige gewesen, auf der Flucht 1945, in allen Stadien der Zersetzung. Und ihre Eltern natürlich. Die hatte sie ja entdeckt damals. Aber das war kurz nach ihrem Tod gewesen, sie hatten ausgesehen wie immer.
Julius dagegen hatte einen schrecklichen Anblick geboten. Sein Blick war gebrochen, das Gesicht verzerrt, Blut und getrockneter Speichel klebten am Oberkörper.
Die dritte Treppenstufe hatte Harald bereits erreicht, aber Gudrun konnte ihm die Anstrengung ansehen. Er musste sich bücken, um die Füße packen zu können und an dem Körper zu ziehen. Das Rückwärtssteigen erforderte ein sehr gutes Gleichgewichtsgefühl und viel Kraft. Gudrun bezweifelte, dass das zu schaffen war. Es waren fünfzehn Treppenstufen, die er auf diese Weise zurücklegen musste, und Julius wog zu Lebzeiten vielleicht achtzig Kilo. Beflissen griff sie nun unter die Schultern des Toten und bemühte sich, diese anzuheben, aber sie rutschten ihr immer aus den Händen, sie wusste nicht, wo sie am besten anpacken sollte, um einen festen Griff zu haben.
Harald zog plötzlich ruckartig an den Füßen, sie ließ den Oberkörper fallen, und Julius’ Schädel knallte auf dem harten Boden auf. Sie sah erschrocken zu Harald. Der setzte sich auf die Treppe, ohne die Füße loszulassen. Er atmete schwer und winkte erschöpft ab.
»Das spürt er nicht mehr. Gottlob.«
»Glaubst du, wir schaffen das?«, erkundigte sie sich besorgt.
»Sicher.« Harald sah ihr in die Augen. Sie hätte nicht sagen können, was er dachte. »Uns bleibt wohl nichts anderes übrig.«
Sie nickte, unfähig, sich darüber Gedanken zu machen, was geschehen würde, wenn sie scheiterten.
»Hast du dir schon einmal Gedanken darüber gemacht, was du mit ihm machst?« Haralds Kinn zeigte auf die Tür, hinter welcher der Gefangene angekettet saß. »Danach, meine ich.«
»Danach? Nach was?« Sie verstand nicht.
»Wenn du seine Unterschrift hast. Lässt du ihn frei?«
»Es ist unser Geld. Wir haben ein Anrecht darauf.« Sie wollte nicht auf Haralds Frage antworten. Sie hatten das Thema immer ausgeklammert, Julius und sie. Sie waren sich einig gewesen, dass ihnen etwas einfallen würde, wenn es so weit war.
Harald blickte sie stumm an, und in seinem Ausdruck erkannte sie einen Anflug von Zweifel. Er gab keinen weiteren Kommentar ab, stattdessen stand er auf, holte einmal tief Luft und gab ihr das Kommando.
»Jetzt zusammen. Und los!«
Er tastete sich erneut eine Stufe rückwärts, wobei er mit aller Kraft an dem verpackten Körper zog. Sie hatte mittlerweile das Seil, mit dem der Oberkörper umwickelt war, gegriffenund schob, so gut es ging, von unten nach. Sie hatten gerade einmal ein Drittel der Treppe geschafft.
*
Das Pensionszimmer war klein, aber sehr sauber und freundlich. Die Dame hatte sich nicht gewundert, dass Beate nur eine kleine Tasche mit sich führte und ohne Gepäck kam. Sie wollte das Zimmer zunächst auch nur für eine Nacht. Beate Klinger hatte sich im Drogeriemarkt eine Seife, Zahnpasta und -bürste besorgt und wollte nun in den Ort gehen, um zu sehen, ob sie
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