Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
mir egal, ob sie Julius wegen der Entführung drankriegen. Ich will ihn sehen!«
Gudrun schien nachzudenken, sie musterte Beate mit zusammengekniffenen Augen. Ihr langer weißer Zopf war nicht so akkurat geflochten wie üblich, einzelne Strähnen hatten sich gelöst und umrahmten Gudruns verkniffenes Gesicht, das Beate erschien wie eine Rosine. Doch dann zuckten Gudruns Augen und blickten auf etwas, das sich in Beates Rücken befand, die gleichzeitig ein Geräusch hörte. Sie drehte sich um und bemerkte, dass sich die schwere Metalltür, die offenbar in den Keller hinabführte, geöffnet hatte. Aus der Tür kam ein Mensch. Ein alter Mann, aber es war nicht Julius. Dieser Mann war um einiges größer und breiter, aber was ihn am augenfälligsten von ihrem Ehemann unterschied,war, dass er nur ein gesundes Auge hatte. Das starr auf sie gerichtet war. Beate fürchtete sich.
»Guten Tag.« Die Begrüßung fiel eher wie eine Frage aus, und nachdem Beate den Schock über das Erscheinen des Riesen annähernd verarbeitet hatte, musste sie feststellen, dass dieser eine angenehme Stimme hatte.
»Guten Tag«, brachte sie hervor, »Klinger. Ich suche meinen Mann.«
Der große alte Mann, der sie so unverhohlen gemustert hatte, warf nun Gudrun einen fragenden Blick zu. Die lächelte.
»Ja. Frau Klinger ist eine alte Freundin, und sie sucht ihren Mann. Julius Klinger.«
Der Riese blickte nun wieder zu Beate und schüttelte den Kopf.
»Bei uns? Wieso suchen Sie Ihren Mann bei uns? Hier ist niemand.«
»Das ist gelogen.« Beate war überrascht von ihrer eigenen Bemerkung, aber der Besuch bei Gudrun war in keiner Weise so verlaufen wie geplant. Vorher hatte sie sich jeden Satz zurechtgelegt, hatte sich ausgemalt, wie Gudrun reagieren würde, wenn sie ihr offenbarte, dass sie sowohl Julius’ Mantel als auch das Auto gesehen hatte, aber nun, hier in dem dunklen Gang, angesichts des fremden Mannes, war jeder Plan Makulatur.
»Ich weiß, dass Sie jemanden gefangen halten. Da unten.« Sie zeigte auf die Metalltür. Ihr Finger zitterte. »Ich weiß das, weil mein Mann ihn entführt hat.«
Der große Alte sah zu Gudrun. Deren Mundwinkel zogen sich noch weiter nach unten, und Beate spürte körperlich, dass sie Gudrun von Rechlin nicht ertragen konnte. Sie hattesie noch nie gemocht. Diese Frau war gemein und habgierig, und in Beates Augen war sie schuld an ihrem Elend. Nicht der Mann im Keller, sondern Gudrun war es. Sie hatte Julius diesem Anlageberater in die Arme getrieben, weil sie und Volkmar mit ihrem Wohlstand geprahlt hatten, und der arme Julius, der so leicht zu verführen war, hatte den Luxus derer von Rechlin gesehen und gedacht, dass er auch ein Stückchen von dem Kuchen abhaben könnte. Er hatte verkannt, dass er ein kleiner Mann war, der sich hochgearbeitet hatte, aus der Frankfurter Vorstadt, aus kleinen Verhältnissen. Sie, die Klingers, sie gehörten nicht zu solchen wie Gudrun und Volkmar, die in den Casinos der Welt mit ihrem Geld prassten. Gudrun hatte Julius dazu verführt, so sein zu wollen. Und dann, nachdem das Geldgeschäft schiefgegangen war, hatte sie ihn dazu gebracht, kriminell zu werden und seinen guten Leumund aufs Spiel zu setzen. Oh, wie sie Gudrun von Rechlin hasste.
»Ich will ihn sehen! Sofort.« Sie schrie, hoch und schrill. Der Mann mit dem toten Auge nickte Gudrun zu und öffnete die Kellertür. Ein gelber Lichtschein fiel in den dunklen Flur, und er erschien Beate wie eine Verheißung und der Weg zur Hölle gleichermaßen.
»Bitte, dann kommen Sie«, sagte der Mann und hielt ihr die Tür auf. Beate Klinger tat einen Schritt und blickte dann die Betontreppe hinunter. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, aber sie war fest entschlossen, diesen Weg bis zum bitteren Ende zu gehen.
*
Sie hatten ihm einen Teller Grießbrei gebracht. Als Belohnung, vermutete er. Dass er geschwiegen hatte. Aber er hattedie Zusammenhänge viel zu spät begriffen. Die Frau war mit dem Zyklop in seinen Keller gekommen und hatte ihn nur angestarrt. Sie war fassungslos gewesen, und er hatte versucht, seine Würde zu bewahren. Sich aufrecht hingesetzt, die Brust herausgedrückt, ihr gerade in die Augen geblickt. Aber es hatte nicht viel genutzt, sie war schockiert gewesen, das war ihr deutlich anzumerken. Die Hand hatte sie vor den Mund geschlagen und den Kopf geschüttelt. Schließlich war sie, ohne mit ihm zu sprechen, wieder hinausgegangen. Dass er sie nicht um Hilfe bitten konnte, war ihm sofort klar gewesen.
Weitere Kostenlose Bücher