Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
zulaufen, offenbar hatten die Eindringlinge sie und Harald noch nicht bemerkt. Harald ging ein paar energische Schritte nach vorne, als plötzlich ein dumpfes Geräusch zu hören war, auf welches ein abgehackter Schrei folgte. Harald knipste die Taschenlampe an und leuchtete in den Garten. In der Grube, die er für Julius ausgehoben hatte, lag ein Mensch, der sich im Schein der Taschenlampe mühsam aufrappelte. Geblendet hob er die Hände über den Kopf, sein Gesicht und sein Oberkörper waren mit frischer Erde beschmiert, und er war voller Angst.
»Bitte … tun Sie mir nichts.«
Es war ein Jugendlicher, mit viel zu langen schwarzen Haaren, der starke Ähnlichkeit mit dem Jungen hatte, der bei ihnen die Wochenzeitung austrug.
13.
Sie saß im Zug nach Hause und blickte aus dem Fenster. Die Landschaft zog an ihr vorbei, aber Beate Klinger war nicht imstande, ihren Blick einzuhaken, etwas wahrzunehmen außer ihrer Trauer und Angst. Sie war nicht fündig geworden in Bayern, im Gegenteil, die Reise hatte sie gleichermaßen erschüttert und verunsichert. Sie hatte Julius nicht aufgespürt. Noch weniger als zuvor wusste sie, wo er abgeblieben sein konnte. Es war nicht so, dass sie Gudrun Glauben schenkte, die immer und immer wieder versichert hatte, dass Julius bei ihr nicht aufgetaucht war. Aber sie konnte auch nicht das Gegenteil beweisen. Sie war im Haus umhergegangen, aber von Julius keine Spur. Nur die Sachen des anderen Mannes, der sich ihr im Übrigen nicht vorgestellt hatte. Sie hatte auch nicht fragen wollen. Denn obwohl dieser große und steinalte Mann sich ihr gegenüber freundlich verhalten hatte, war er furchteinflößend. Er hatte eine kraftvolle Aura, der etwas Gewalttätiges anhaftete. Beate war ohnehin schon verängstigt gewesen, nachdem sie im Keller gewesen war. Danach wollte sie keine Minute länger als nötig mit dem einäugigen Alten und der giftigen Gudrun allein im Haus verbringen. Oder eben nicht allein, denn da war ja noch der Gefangene. Sie hatte seinen Anblick nicht ausgehalten. Wie der Mann an die Heizung gekettet war, das Handgelenk wundgescheuert. Der Nachttopf neben ihm, sein verschwitztes Hemd, der leereBecher und der Apfelgriebsch. Am schlimmsten aber war der Blick des Gefangenen gewesen. Der sie um Hilfe gebeten hatte. Sie sollte ihm helfen, ihn da rausholen, ihn befreien. Das hatten seine Augen ihr gesagt, er hatte förmlich um Hilfe geschrien. Aber Beate hatte bei seinem Anblick erkannt, dass vor ihr der Grund für Julius’ Verschwinden saß. Und sie außerstande war, sich damit zu beschäftigen. Sie war aus dem Keller geflüchtet und wollte diesen Mensch dort unten vergessen. Ihr Mann hatte sich versündigt, als er ihn entführt hatte. Julius war dafür verantwortlich, dass der Gefangene dort unten hockte und litt und um sein Leben fürchtete. Dabei war Julius Arzt. Er war stolz darauf gewesen, dass er sich dem humanistischen Menschenbild verschrieben hatte, er war ein guter Mann. Gewesen? Jedenfalls hatte er eine Schwelle übertreten, er war nicht mehr der Mann, den sie geheiratet hatte, und sie war sich nicht sicher, ob sie ihn wieder zurückwollte. Wer war Julius geworden? Was war mit ihm passiert? Beate Klinger hatte keine Antwort auf die Fragen, sie wusste nur, dass sie nach Hause wollte. Zu Klaus, ihrem Sohn. Dass sie ihn in die Arme nehmen und getröstet sein wollte. Klaus war fünfunddreißig und ein Bär von einem Mann. Größer als sie und Julius, außerdem neigte er zur Fettleibigkeit. Aber er war anlehnungsbedürftig wie ein Kleinkind, und nicht selten in den letzten Jahren hatte Beate das Gefühl gehabt, dass es oft ihr Sohn gewesen war, der ihr Trost und Halt gegeben hatte. Vorhin allerdings hatte er sich ganz verzweifelt angehört. Der Betreuer hatte angerufen und ihr klargemacht, dass sie Klaus nicht länger abstellen könne, er habe schlimmes Heimweh und verstehe nicht, warum Mama und Papa ihn so lange alleine ließen. Sie hatte noch mit Klaus selbst gesprochen, und es war ihr gelungen, ihn zu trösten. Sie hatte ihmgesagt, dass sie sich gleich in den Zug setzen und nach Hause fahren werde. Und dass er morgen einen ganzen Tag zu Hause bleiben dürfe, sie würden Malefiz spielen und dabei einen großen Teller Kekse naschen. Klaus weinte ein bisschen am Telefon, aber schließlich hatte sie ihn so weit, dass er aufhörte zu schluchzen.
Sie hatte gestern nach dem Besuch bei Gudrun kein Auge zugemacht. Am liebsten wäre sie sofort nach Frankfurt zurückgefahren, doch
Weitere Kostenlose Bücher