Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
zulassen wollte, dass so ein Schwein wie dieser Mann da unten im Keller ihr ungestraft alles wegnehmen durfte. Sie hatte siegen wollen, aus Prinzip. Gestern Nacht noch, als sie Harald geliebt hatte, hatte sie gehofft, dass nun noch einmal ihre alte Stärke zurückkehren würde. Sie hatte sich ausgemalt, dass sie, nachdem sie ihr Geld hatte, mit Harald noch ein paar schöne Jahre verleben durfte. Aber jetzt, in diesem Moment, brach das ganze Elend über ihr zusammen. Harald hatte recht. Sie hatte die Sache nicht im Griff. Sie würde scheitern und noch tiefer im Elend versinken, denn sie hatte keine Kraft mehr. Und was ihre Situation verschlimmerte: Sie hatte niemanden an ihrer Seite.
Es polterte im Treppenhaus, schwere Schritte kamen die Treppe herauf. Das musste Harald sein, Gudrun wischte sichrasch über die feuchten Augen. Sie hörte durch die geschlossene Tür, dass er nach ihr rief. Erneut zog sie an der Toilettenspülung, strich sich die Kittelschürze glatt und trat hinaus in den Flur.
»Ich bin so weit.« Harald stand direkt vor der Tür, sie musste zu ihm aufblicken. »Jetzt musst du mir helfen.«
Er war voller Erde, und die dicken Gummistiefel hatten auf der Treppe Erdklümpchen hinterlassen, aber sie vermied es, ihn zurechtzuweisen. So nickte sie ergeben und wollte ihm folgen.
»Die Gummihandschuhe brauchst du«, sagte er barsch und zeigte auf den Putzeimer, auf dessen Rand sie die Dinger gelegt hatte.
»Wozu?«
»Wir müssen die Leiche in die Grube legen. Das geht besser zu zweit.«
Gudrun konnte sich ein Stöhnen nicht verkneifen, aber Haralds scharfer Blick zwang sie dazu, die Zähne zusammenzubeißen. Es war unvorstellbar für sie, den übelriechenden Körper anzufassen, geschweige denn, ihn hochzuheben und in die Grube zu legen. Jede Faser ihres alten Körpers schmerzte, sie wollte schlafen, sie war zu Tode erschöpft.
Sie nahmen den Weg über das Wohnzimmer und die Terrasse. Gudrun warf einen Blick zu Annettes Fenster, aber bei ihrer Tochter war alles dunkel. Annette schlief ohnehin nach vorne heraus – tief betäubt in der Regel. Außerdem war der Teil des Gartens, wo die Leiche in der Schubkarre unter dem Gebüsch wartete und wo Harald die Grube ausgehoben hatte, von Annettes Einliegerwohnung aus nicht einsehbar. Harald drehte sich auf der Terrasse um und wies Gudrun an, das Licht imWohnzimmer auszumachen. Er hatte eine Taschenlampe dabei, außerdem war es eine sternenklare Nacht. Gehorsam ging Gudrun zurück und löschte das Licht. Unsicher tastete sie sich vorwärts, setzte behutsam einen Fuß vor den anderen, um nicht zu stürzen.
»Kannst du mir leuchten?«, bat sie Harald, der daraufhin wortlos die Lampe anknipste, damit sie im Lichtstrahl zu ihm gelangen konnte. Kaum hatte sie ihn erreicht, machte er die Lampe aus und ging mit großen Schritten vor ihr her. Sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, aber sie wollte ihn nicht verlieren, unsicher, wie sie war.
Schließlich hatten sie das Gebüsch erreicht, und Harald hieß sie, die stacheligen Zweige hochzuhalten, damit er darunter die Schubkarre mit der verschnürten Leiche hervorziehen konnte. Sie hatten Julius der Länge nach in die Karre gelegt, aber er ragte an beiden Seiten weit darüber hinaus, was es schwierig machte, das Gleichgewicht zu halten. Zweimal kippte die Karre auf dem kurzen Weg zu der ausgeschachteten Grube um, und es war jedes Mal überaus mühselig, die Fracht wieder an ihren richtigen Platz zu bugsieren. Gudrun hielt die Schubkarre, während Harald alleine versuchte, das Paket wieder darauf zu platzieren, bevor er erneut das Schieben übernahm. Kurz vor der Grube hielt er plötzlich an. Er stellte die Schubkarre ab und bedeutete Gudrun zu schweigen. Tatsächlich hörte sie nun auch etwas. Zuerst raschelte es, dann folgte ein Schaben, was sie schnell als das Geräusch, das verursacht wurde, wenn Stoff an eine Steinmauer rieb, identifizierte. Sie hörten Kichern und gedämpfte Flüche. Gudrun war starr vor Schreck, es gab keinen Zweifel, jemand war über die hintere Gartenmauer geklettert und in ihr Grundstück eingedrungen! Einen kurzen Moment dachte sie an Edeltraud,die ihr Gemüse stehlen wollte, aber dann verwarf sie den Gedanken sofort. Edeltraud brauchte dazu nicht den Schutz der Nacht, sie war dreist genug, bei Tage hier einzusteigen, wenn sie das gewollt hätte. Und Edeltraud würde mit Sicherheit nicht kichern.
Jetzt sah sie auch im Schatten der Nacht zwei Gestalten gebückt über die Wiese auf sie
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