Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Widerrede zwecklos. Sie meinte, Stifter müsse sich einbringen und alle ihre Freunde kennenlernen, und wo könne man das besser als an der zentralen Fleischverteilstelle. Der Grill war ein ein Meter breiter Rost über einem von Andreas selbst zusammengeschweißten Gestell. Der Briefträger stand nun schon seit Beginn der Party vor zwei Stunden hier und drehte und wendete Würste, Steaks und Maiskolben. Immer wenn er dachte, er habe seiner Pflicht Genüge getan, kam eines der Lanz-Kinder aus der Küche mit einer weiteren Plastikschüssel voll mariniertem Fleisch oder mit eingeschweißten Würsten. Die jüngste Tochter, Rubina, hatte es sich mit ihrer Freundin Amelie zur Aufgabe gemacht, für das leibliche Wohl der beiden Männer am Grill zu sorgen. Eifrig holte sie Salate, Brot und Bier, und bald wusste Stifter nicht mehr, wovon er am meisten übersättigt war: vom Fleischdunst am Grill, vom Kartoffel- und Nudelsalat oder vom Bier. Sicher hatte er bereits drei oder vier Flaschen Helles geleert, aber Thalmeier, der es ihm gleichtat, war der Meinung, dass man bei der schweißtreibenden Tätigkeit den Alkohol längst wieder ausgeschwitzt habe. Eine unkonventionelle Ansicht füreinen Polizisten, meinte Stifter, aber Thalmeier lachte schallend und merkte an, dass er außer Dienst und dies seine Privatmeinung sei. Andererseits spürte Stifter, dass ihm die Hitze und der Alkohol ganz angenehm zu Kopf stiegen, und er begann, den Abend zu genießen.
Der Garten der Familie Lanz war bis auf den letzten Platz belebt. Es waren mehrere Hunde da, die einander über das Grundstück jagten oder den Grill belagerten. Etliche Kinder jeder Altersstufe hüpften kreischend auf dem Trampolin, ein paar Jungs kümmerten sich um das Lagerfeuer, und die älteren Jugendlichen saßen in der Nähe seiner Hütte, rauchten und tranken. Ab und zu drang das helle Lachen eines Mädchens herüber, kehlige Rufe der Buben im Stimmbruch, ein Fetzen Musik. Die Stimmung war insgesamt entspannt und heiter. Stifter staunte noch immer, wie viele »beste Freunde« Kyra und Andreas Lanz hatten, es waren mindestens fünfzig Erwachsene anwesend. Die meisten von ihnen waren im Alter der beiden Gastgeber, Mitte, Ende vierzig. Aber auch ein paar Ältere und jüngere Paare waren dabei. Es gab nur wenige Singles, und Kyra hatte Stifter von Beginn an indezent bei jeder Frau, die allein kam, darauf hingewiesen, ob sie einen Partner hatte oder alleinstehend war. Stifter war alles andere als interessiert, sich verkuppeln zu lassen, aber es schien, als sei Kyra in dieser Hinsicht unerbittlich und habe es sich zum unbedingten Ziel gesetzt, ihn heute Abend an die Frau zu bringen. Stifter hatte sich vorgenommen, sie nicht vor den Kopf zu stoßen, gleichzeitig wusste er, dass ihm heute bestimmt nicht der Sinn nach Flirten stand. Er dachte unentwegt an Annette von Rechlin. An ihre Verzweiflung, ihre Einsamkeit und ihre unbändige Wut. Er fragte sich, welch Leben diese an und für sich so attraktive, wohlerzogene und offensichtlichgebildete Frau gehabt haben musste, um so zu werden. So zerstört.
»Sie sind der Charlie-Parker-Mann, ja?«
Stifter sah hoch. Er hatte nicht bemerkt, dass die Frau, die vor dem Grill stand, ihm ihren Teller hingestreckt hatte.
»Steak oder Wurst oder weder noch?«, sprang Thalmeier zur Seite.
»Beides. Also Steak und Wurst. Auf keinen Fall weder noch.« Sie lachte, und der alte Bulle wählte zwei Fleischstücke aus, die er ihr auf den Teller legte.
»Sauber«, sagte er und lächelte breit.
Die Frau bedankte sich höflich, sprach dann aber erneut Johannes Stifter an. »Ich bin die Mutter von Lukas«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin.
Stifter ergriff sie und wunderte sich über den zupackenden Griff. Er musterte die Frau, die auf den ersten Blick so wenig Ähnlichkeit mit ihrem Sohn zu haben schien. Während Lukas zart, blond und durchscheinend war, war seine Mutter das, was der Bayer als »fest« bezeichnete. Sie war ebenso groß wie Stifter und von kräftiger Statur. Allerdings wirkte sie nicht weich und mollig, sondern stark und trainiert. Sie hatte breite Schultern und muskulöse Arme, unter dem kurzen T-Shirt spannte sich der Bizeps. Ihr Brustkorb war breit, und die Brüste waren flach. Sie hätte Stifter beängstigen können, wäre da nicht das runde, mit Sommersprossen übersäte Gesicht gewesen. Sie lachte breit, und dadurch bildeten sich tiefe Grübchen, unter den Augen hatte sie Lachfalten. Ihr lockiges offenes Haar war von grauen
Weitere Kostenlose Bücher