Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Strähnen durchzogen.
»Vroni«, stellte sie sich vor.
»Schöner bayerischer Name«, kommentierte Georg Thalmeier. »Ich bin der Schorsch.« Dabei reichte er der Frau seinePranke, die sie lächelnd nahm und schüttelte. Stifter warf einen Seitenblick auf den alten Mann und wunderte sich, wie sehr dieser Thalmeier sich von dem unterschied, den er in Germerow kennengelernt hatte. Dort war Thalmeier wie ein Fisch an Land gewesen. Fremd, unzugänglich, schroff und traurig. So, wie Stifter ihn nun erlebte, war er offen, humorvoll und positiv. Aber der Briefträger war sicher, dass auch dies nur eine Seite der Medaille und der wahre Thalmeier ein Produkt aus beidem war, auch hier in der Heimat.
»Schleich di, ich mach des hier allein«, schickte Thalmeier ihn fort, und Stifter protestierte nicht, weil er erstens überrumpelt wurde und zweitens Vroni ganz offensichtlich ihr Gespräch fortsetzen wollte. Sie steuerte zielstrebig auf eine Bierbank zu, an welcher noch Platz war, und setzte sich hin. Stifter nahm gegenüber Platz, und sie prosteten sich mit ihren Bierflaschen zu.
»Aber Sie kennen offensichtlich Charlie Parker?«, begann Stifter das Gespräch.
»Nicht wirklich«, gab Lukas’ Mutter zu. »Ist nicht meine Zeit. Ich habe nie Jazz gehört. Ich habe mit Rod Stewart angefangen und mich eigentlich bis heute nicht wesentlich weiterentwickelt.«
Stifter musste wohl aussehen, als habe er in eine Zitrone gebissen, denn Vroni rollte mit den Augen und lachte.
»Sorry, aber ich hab echt keinen Intellektuellengeschmack.«
Stifter war es peinlich, dass sie sich von ihm so klassifiziert fühlte, und bemühte sich im Folgenden, jedes Gespräch über Philosophie und Musik strengstens zu vermeiden, um nicht als arroganter Sack dazustehen. Das klappte auch so weit zu seiner Zufriedenheit, aber letzten Endes nur, weil Vroni leutselig war und ihn über seinen Beruf und seine Zeit in Berlinausfragte. Es stellte sich heraus, dass sie in Lohdorf aufgewachsen und eine Schulkameradin von Andreas war. Weiterhin erfuhr Stifter von ihr nur, dass sie Hebamme und alleinerziehende Mutter eines Sohnes, Lukas, war. Denn sobald das Gespräch ihr Leben, ihre Interessen berührte, lenkte Vroni ab und stellte Stifter ihrerseits neugierige Fragen. Er genoss die Unterhaltung mit ihr, weil sie frei von Flirt und Hintergedanken war. Vroni war eine sympathische und offene Frau, die Interesse für sein Leben zeigte und Stifter ein Gefühl gab, das ihm weitgehend fremd war: dass er ein interessantes Leben geführt hatte. Seine Zeit in Westberlin als Bundeswehrflüchtling, die Hausbesetzerszene, das Inselberlin der achtziger Jahre und seine Erlebnisse in Germerow – durch Vronis Nachfragen erschien all das bunt und schillernd.
»Der Lukas war total hin und weg«, sagte Vroni gerade und drehte an ihrer Bierflasche herum, »das erlebe ich ganz selten bei ihm.«
Stifter zuckte mit den Schultern. »Das war die Musik, das hat mit mir nichts zu tun.«
Vroni sah ihm direkt in die Augen. »Lukas findet, du bist ein guter Typ.«
Sie nahm ihren Blick nicht von ihm, und er befand, dass er schweigen sollte.
»Außerdem hast du den Jungs geglaubt. Als Einziger, so wie’s aussieht.«
Jetzt erwiderte Stifter ihren Blick. »Du meinst die Sache bei den Rechlins? Nachts im Garten?« Es fiel ihm noch immer schwer, Fremde zu duzen, aber er wollte nicht unhöflich sein.
Sie nickte.
»Was glaubst du ihnen denn?«
Nun sah Vroni auf ihre Flasche und zögerte. »Ich weiß nicht. Einerseits lügt der Luki nicht. Jedenfalls bis jetzt nicht. Vielleicht hat er was geraucht und will’s mir nicht sagen. Und dann haben die beiden sich in ihrem Rausch da so reingesteigert, dass sie wirklich glauben, da war eine Leiche in der Schubkarre.«
Sie nahm noch eine Gabel voll Kartoffelsalat und schnitt sich anschließend ein großes Stück Steak ab, das sie sich mit Genuss in den Mund schob. Stifter war amüsiert, selten hatte er eine Frau gesehen, die in Anwesenheit eines Mannes so schamlos gern aß.
»Auf der anderen Seite ist das auch total strange bei denen. Ich kenn die alte Rechlin ja ganz gut.«
Jetzt horchte Stifter interessiert auf.
»Die junge auch?«, erkundigte er sich, »Annette?«
Vroni lachte, kaute und sprach mit halbvollem Mund weiter. »Die erst recht. Wir waren zusammen in der Schule. Sie war zwar drei Klassen über mir, aber trotzdem. Und zu unserem Literaturzirkel kommt sie auch, einmal im Monat.«
Stifter erzählte Vroni daraufhin, was er mit Annette
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