Postkarten
eine Wasserrinne, über der kreuz und quer abgestorbene Bäume lagen und die von dornigem Gestrüpp überwuchert war. Da lag ein Strunk, der so fest und groß aussah, daß sie mit ihm zurechtkommen konnte. Sie stellte sich in Position, um ihn loszuzerren. Das vordere Ende konnte sie anheben, aber das hintere schien durch einen anderen Stumpf beschwert. Sie zitterte. Würde auf die andere Seite der Rinne gehen und ihn irgendwie loskriegen müssen. Wußte, daß sie nicht wie ein Seiltänzer über die herumliegenden Stämme balancieren konnte, wie Mink es getan hätte. Sie mühte sich ab, klammerte sich fest, tastete sich in die Rinne hinunter und fing an, sich einen Weg durch verfilztes Gestrüpp und Moder zu bahnen. Der Eisregen prasselte. In dem dichten Geäst war es dunkel und stank. Sie stieß sich an Aststümpfen. Kämpfte sich voran, zwei, drei Meter, ihr Herz hämmerte, sie war so sehr darauf aus, die andere Seite zu erreichen, daß sie nichts als Staunen verspürte, als das tödliche Aneurysma ihrer Reise ein Ende setzte. Ihre Hand krampfte sich um wilde Himbeerzweige, entspannte sich.
39
Die Holzfällerstraße
Über die Windschutzscheibe strömte trommelnder Novemberregen. Böen schaukelten das Auto, klatschten nasses Laub auf die Straße. Rays milchiger Atem kondensierte auf den Türfenstern und milderte das grelle Licht der Ampeln und das Neonschild CHIN GARDEN - das A in CHINA hatte noch nie funktioniert - zu bunten Rauten ab. Die Heizung blies ihm surrend Wärme an die Beine. Er bog in die Henry Street. Die Scheinwerfer funkelten die nassen Bäume an, den fleckigen Gehsteig. Durch die Rinnsteine schoß Wasser und Laub, nasse Stiefel blitzten auf wie Flintstein. In der Dunkelheit schimmerten die Fenster seines Hauses wie Vierecke aus schmelzender Butter.
Er fuhr auf die Einfahrt und stellte den Wagen neben dem erhöhten, mit Grasbüscheln bewachsenen Mittelstreifen ab.
Das Gras streifte die Unterseite des Autos. Durchs Fenster sah er das Rot des Küchenvorhangs, sah, wie Mernelle sich um den Tisch bewegte, vermutlich die Sets glattstrich oder das Besteck auflegte, so daß es aussah wie Kinder, die sich der Größe nach zu einem Foto aufgestellt hatten,
Die Tür hatte sich durch die Feuchtigkeit verzogen, und er mußte zweimal dagegen drücken, bevor sie aufging. Mernelle, die ihm in ihrer engen schwarzen Hose den Hintern entgegenstreckte, während sie sich bückte und aus dem Schränkchen unter der Spüle einen frischen Schwamm holte, sagte: »Scheußlich draußen?«
»Ziemlich. Und es wird kälter. Noch vor Morgen soll’s schneien.«
»Da werden sich die Rotwildjäger freuen.« Der Wind trieb Regen gegen die Hintertür. Die Schutzhülle des Gastanks knatterte gegen das Haus.
»Ja, das wird ihnen gefallen. Wie lange dauert’s noch bis zum Abendessen? Riecht unglaublich gut. Was gibt’s denn?«
»Schweinebraten mit gebackenem Kürbis. Schien mir bei dem schlechten Wetter eine gute Idee. Und Apfelkuchen hab’ ich auch gebacken. Danach riecht’s, nach dem Zimt.«
»Willst du was trinken?« Er hängte seine feuchte Jacke an den Haken in der Wand, wo sie trocknen konnte. Er strömte den bitteren Duft nach rohem Holz aus. Seine Hausschuhe standen im Flur.
»Einen vielleicht. Mach ihn nicht so stark.« Sie lugte in den heißen Ofen, stach mit der Fleischgabel in den Braten. Ray schaltete das kleine Radio über der Spüle ein. Trompetenmusik, etwas Lateinamerikanisches mit vielen Schnalzern. Er nahm die Flasche Bourbon aus dem Vorratsschrank, der nach trockenen Kiefern und Gewürzen roch, die grüne Flasche Ginger-ale aus dem Kühlschrank. Mernelle holte die Eiswürfelschale aus dem Gefrierfach.
»Hab’ ich heute morgen erst aufgefüllt«, sagte sie, »damit die Eiswürfel nicht so alt schmecken.« Sie hielt die Schale unters fließende Wasser, bis sich die Würfel mit einem kurzen eisigen Knacken gelockert hatten. Ray stellte sich hinter sie, lehnte sich gegen sie, drückte ihren Bauch an den Rand der Spüle. Er atmete in ihr Haar. Sie spürte die Hitze seines Atems auf der Kopfhaut, im Ohr, spürte seinen Mund im Nacken, seine Zunge zwischen den vereinzelten Haaren.
»Ach. Ach«, sagte er. »Zu Hause. Das mag ich.«
Ihre vereitelte Sehnsucht nach Kindern flackerte auf. »Der Braten braucht noch eine Viertelstunde. Er ist fast fünf Pfund schwer, es bleiben genug Reste, um morgen Fleischpastete mit Kartoffeln zu machen.« Sie nahm den Drink entgegen. Er fühlte sich kalt an. Das Eis klapperte
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