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Postkarten

Titel: Postkarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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Essen hereingekommen war.
    »Hast du daran gedacht, nach Wisconsin zurückzugehen, deine Kinder zu besuchen? Müssen jetzt erwachsen sein.«
    »Die Bande sind schon zu lange durchgeschnitten. Mit einer stumpfen Schere.« Die Milch sei am Umkippen, sagte sie. Er roch es und trank seinen Kaffee ohne.
    »Ich weiß, daß ich auf keinem Rodeo mehr singen werde, Loyal. Meine Stimme ist schwach, ich bin zu alt. Alte Damen singen nicht auf Rodeos. Aber weißt du, ich komme mir nicht alt vor, ich komme mir vor, als hätte ich den lebendigsten Teil meines Lebens noch vor mir. Ich könnte auf der Ranch bleiben, Loyal, aber nicht allein. Hier wird ein Mann gebraucht.« Deutlicher konnte sie es nicht sagen.
    Der Kaffee, schwarz in den vertrauten blauen Tassen. Er verrührte Zucker. Ihr Löffel klirrte.
    Dann war mit einemmal die Peinlichkeit vorüber. Geschichten von Dingen, die er erlebt hatte, sprudelten heraus, die Worte schossen zwischen seinen locker sitzenden, lückenhaften Zähnen hervor. Er erzählte, wie Cucumber in einem Bergwerk ertrunken war, wie er um Mitternacht mit Bullet über gefährliche Pässe gefahren war und die Scheinwerfer ausfielen, von dem Berglöwen. Er, der so wenig geredet hatte, redete viel, wurde zu einem eifernden Hausierer, der die Geschichte seines Lebens verkaufte. Um zwei Uhr morgens, als Starr wegdöste, Schlaf und Stille herbeiwünschte, hörte er auf. Sie hatten einander satt, beide sehnten sie sich nach dem Trost der Einsamkeit. Er sagte, er würde auf der Couch neben dem Ofen schlafen. Die Küche stank nach Zigaretten.
    Am Morgen schenkte sie ihm Jacks perlgrauen Cowboyhut.

46
    Was ich sehe
    Eine Sitzecke in Dot’s Place. Der Kopf der Plastikeule glüht an der Wand. Er liest die Lokalzeitung, die Arme auf dem furnierten Tisch aufgestützt. Es riecht nach Fettlöser. Dot hockt da und wischt an dem schmutzigen Herd herum. Der Kaffee hat die Farbe von Schlamm in einem Flußbett. Wapiti-, Dickhornschaf-, Hirsch- und Elchköpfe an den Wänden, mit Fett von Dots Kocherei überzogen. Pommes frites. Spiegeleier. Die Trophäen hat Harry S. Furman, Dots alter Herr, geschossen. Beim richtigen Licht kann jeder die trübe Fettschicht auf den Glasaugen sehen.
    Er blättert die Zeitungsseiten um, wirft einen Blick auf das Foto einer baskischen Familie, die mit Verwandten aus Südamerika posiert. Die Männer in der ersten Reihe sind in die Hocke gegangen, so daß ihre Knie den Stoff der Polyesterhosen spannen, ihre Mäntel Buckel bilden. Da ist die große Matriarchin der Gruppe, Celestina Falxa, aus dem Haus der kleinen Kinder, Ttipinonia, ernst, stämmig und O-beinig starrt sie mit ihren kleinen Augen direkt in die Kamera. Sie trägt ein mit Rauten bedrucktes Kleid aus Kunstseide, umklammert eine Handtasche. Vierundachtzig und steuert ein einmotoriges Flugzeug über unglaubliche Entfernungen, behauptet die Bildunterschrift. Sie hat nie gelernt, Auto zu fahren.
    Er betrachtet das Bild, die Blickrichtung aller Augen. Außer ihr schaut keiner in die Kamera. Eine ältliche Frau mit einer bunten Brille lächelt verhalten und sieht zu Celestina. Die drei Cousinen aus Südamerika haben die gleiche Haarfarbe und lächeln anmutig. Auch sie blicken zu Celestina. Die Männer in der hintersten Reihe stehen auf Stühlen. Ihre Stirnen schimmern weiß, ihre Gesichter sind sonnenverbrannt. Drei Männern fehlen die Vorderzähne. An der Seite steht eine Frau in einem karierten Hosenanzug. Die Hosenbeine umhüllen ihre Beine wie Abzugsrohre, die Jacke ist so geschnitten, daß die Karos purzeln. Im Hintergrund ist nahe der Decke ein Fernsehgerät angebracht, die Plastikwände des Holiday Inn, ein Chromstuhl, ein verschmutzter Nylonteppich.
    »Was zum Teufel haben Sie da, Mr. Blood, den Schlüssel zum Geheimnis aller Zeiten?« Dot kichert. Sie packt eine Schüssel mit gefrorenen Fleischpasteten. »Sie schauen so konzentriert hin, daß ich schon gedacht habe, Sie hätten Ihren lang verlorenen Bruder wiedergefunden.«
    Mehr bleibt am Ende nicht: das Betrachten fremder Menschen auf Fotografien.

47
    Die rothaarige Kojotin

    Er glaubte nicht, daß unter dem Goldasterstrauch etwas sein würde. Aber als er hinkam, um die Falle und den Pflock herauszuziehen, sah er sie, eine für die Saison späte Kojotin von roter Farbe, besonders kräftig im Gesicht, an der Brust und den Läufen. Die heiße Frühlingssonne, die vom letzten Schnee reflektiert wurde, hatte ihren Pelz gekräuselt und verbrannt wie eine billige Dauerwelle. Sie wich

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