Postkarten
Kaffee kauernd, fragt er sich, wie weit er fahren wird.
5
Ein kurzer, heftiger Schock
Der Bär hatte wie viele Bären ein kurzes, bewegtes Leben geführt. Im Spätwinter des Jahres 1918 in einer Baumhöhle geboren, war er der ältere von zwei Jungen. Er war streitsüchtig und hatte kein Gespür für die tieferen Bedeutungen von Neuheiten. Er fraß die Überreste eines vergifteten Adlers und wäre beinahe verendet. In seinem zweiten Herbst sah er von einer Felsenhöhe aus, wie seine Mutter und seine Schwester von ausgemergelten Jagdhunden auf einem Felsvorsprung in die Enge getrieben wurden. Brüllend stürzten sie in die Tiefe, begleitet von Gewehrfeuer. Im gleichen Jahr wurde er selbst gejagt, entging Tod und Verwundung jedoch bis 1922, als die Ladung eines Sargmachers - vom Werkstattboden zusammengekehrte, kaputte Schrauben - ihm den linken oberen Eckzahn zerschmetterte, seinen Verstand aus dem Gleichgewicht brachte und ihm chronische Geschwüre bescherte.
Im nächsten Sommer eröffnete an der Ostseite seines Reviers McCurdy’s Lodge, ein massiver Bau aus Tannenstämmen und geschnitzten Zedernpfählen. Der Geruchssinn des Bären war vom Hunger geschärft. Er kam zum Abfallhaufen des Hotels, exotische Pfirsichschalen, gebutterte Brotkrumen und Rindertalg schmolzen in seiner heißen Kehle. Er fing an, am späten Nachmittag ungeduldig zwischen den Bäumen nach dem Küchengehilfen Ausschau zu halten, der auf einem Schubkarren Orangenschalen und schimmelige Kartoffeln, Sellerieknollen und Hühnerknochen, Ölreste von Sardinenkonserven brachte.
Der Gehilfe war Koch in einem Holzfällerlager gewesen und lernte nun die Raffinessen der gehobenen Küche. Er sah in der Dämmerung den Bären und lief schreiend zum Lokal zurück, um eine Flinte zu holen. Der Hotelier McCurdy war gerade in der Küche und sprach mit dem Koch über Tournedos forestier . Er ging hinaus, um sich den Bären selbst anzuschauen. In den massigen Schultern und der hundeartigen Schnauze entdeckte er etwas, und er wies die Zimmerleute seines Etablissements an, am Hang über dem Abfallhaufen Bänke aufzustellen. Sie grenzten den Bereich mit einem Geländer aus entrindeten jungen Bäumen ab, um anzuzeigen, wie weit man herangehen durfte. Die mutigeren Gäste spazierten vor Aufregung bibbernd durch die Birken, um den Bären anzugaffen. Sie hielten einander an Schultern und Armen, legten schützend die Hände an die Kehle. Das Lachen blieb ihnen im Hals stecken. Der Bär schaute nicht einmal auf.
Den Sommer über beobachteten die Gäste, wie der Bär den weichen, fliegenübersäten Abfall mit seinen Klauen durchwühlte. Die Männer trugen bequeme Anzüge oder weite Flanellhosen und Pullover mit Karomuster, die Frauen zerknitterte enge Leinenkleider mit Matrosenkragen. Sie hoben ihre Fotoapparate hoch, bannten den Glanz seines Pelzes, seine funkelnden Krallen. Oscar Untergans, ein Holzschlaggutachter, der Hunderte von Naturaufnahmen an Postkartenhersteller verkaufte, fotografierte den Bären am sommerlichen Abfallhaufen. Untergans kam immer wieder, folgte dem Koch auf dem Pfad, hob übelriechende Rinden oder glanzlose Eierschalen auf, die vom schaukelnden Schubkarren gefallen waren. Manchmal wartete der Bär schon. Der Koch warf ihm den Abfall mit einem spitzen Spaten zu. Er traf den Bären mit verfaulten Tomaten, Grapefruithälften, die gelben Schädeln glichen.
Zwei oder drei Sommer nachdem Untergans Schnappschüsse von dem Bären gemacht hatte, wurde eine Stromleitung zum Hotel verlegt. Eines Abends tauchte der Bär nicht mehr beim Abfall auf und wurde auch in den folgenden Wochen und Jahren nicht mehr gesehen. Am Silvesterabend des Jahres 1934 brannte das Hotel ab. In einer verregneten Mainacht des Jahres 1938 stürzte Oscar Untergans im Badezimmer seiner von ihm getrennt lebenden Frau und erlag einer inneren Blutung. Die Postkarte überdauerte.
6
Der lila Schuh im Graben
Mernelle stapfte die steile Straße herunter; Schnee drang in ihre Stiefel. Der Hund warf sich in ihre Fußtritte, sprang wieder heraus, wie auf einer Achterbahn. »Du machst dich kaputt wegen nichts und wieder nichts«, sagte sie. »Dir schickt keiner Briefe oder Postkarten. Blöde Hunde haben keine Brieffreunde. Ich kann mir schon denken, was du schreiben würdest. So was wie ›Lieber Fido, schick mir eine Katze. Wauwau, Hund.‹«
Später würde Mink den Schneeräumer herausholen, den die Gemeinde ihm billig verkauft hatte, als sie auf den Schneepflug umstellte, und ihn
Weitere Kostenlose Bücher