Postkarten
an den Traktor hängen. Der Räumer war eine Art aus Latten gezimmertes Nudelholz, das den Schnee zu einem glatten Packen zusammenpreßte. Auch wenn der Räumer den Hügel hinauf- und hinuntergefahren, war, schaffte es der Laster nicht, nicht einmal mit Ketten. Ehe im November die großen Schneefälle einsetzten, stellte Mink den Laster unten an der Straße ab. Die Vierzig-Liter-Kannen mit Sahne fuhr er jeden Morgen mit dem Traktor hinunter.
»Wenn wir den Laster hier oben lassen, sitzen wir den Winter über womöglich fest. So haben wir wenigstens eine Chance, wenn der Laden Feuer fängt oder jemand schwer verletzt wird. Bis runter zur Straße, und wir haben’ne Fahrgelegenheit.« So redete Jewell aus Minks Mund. Jewell war diejenige, die Angst vor Unfällen und Feuer hatte. Sie hatte den Stall ihres Vaters samt Pferden und Kühen niederbrennen sehen. Hatte ihren ältesten Bruder sterben sehen, nachdem man ihn aus dem Brunnen gezogen hatte, dessen vermoderte Abdekkung jahrelang von Gras überwuchert worden war. Sie erzählte die Geschichte auf eine ganz bestimmte Weise. Räusperte sich. Begann mit Schweigen. Die Finger verschränkt, die Handgelenke an den Busen gelegt, bewegten sich ihre Hände beim Erzählen vor und zurück.
»Er war schrecklich zerschunden. Sämtliche Knochen waren gebrochen. Der Brunnen war über zehn Meter tief, und während er noch fiel, begruben ihn die Steine unter sich. Man brauchte bloß gegen einen Stein zu stoßen, und raus brach er. Sie mußten ihn unter achtzehn Steinbrocken ausgraben, von denen ein paar über fünfzig Pfund wogen, bevor sie ihn rausholen konnten. Die Steine wurden einzeln raufgezogen, ganz vorsichtig, damit sie nicht noch mehr losbrachen. Und von da unten war Marvin zu hören: ›Ähhh, ähhh‹, ununterbrochen. Steever Batwine ist runter, um ihn raufzuholen. War furchtbar gefährlich. Der übrige Brunnen hätte jeden Augenblick einstürzen können. Steever mochte Marvin. Marvin hatte in dem Sommer für ihn gearbeitet, ihm beim Heumachen geholfen, und Steever sagte, daß er’n guter Gehilfe war. Ja, ein guter Gehilfe, erst zwölf, aber schon richtig stark. Die Steine, die sie raufzogen, hätten aus der Schlinge rutschen und Steever zermatschen können.« Dub lachte jedesmal, wenn sie »zermatschen« sagte.
»Nach Marvin bist du benannt«, sagte sie zu Dub, »Marvin Sevins, also lach nicht.«
»Dann schickten sie so’nen kleinen Tisch ohne Beine runter, legten den Tisch in die Schlinge und ließen ihn runter. Der Tisch war halb unten, als er steckenblieb. Da mußten sie ihn wieder raufziehn und ein Stück absägen, bis er gepaßt hat. Steever war dort unten und hat nur darauf gewartet, daß noch mehr Steine runterfallen. Er hat Marvin hochgehoben und ihn auf den Tisch gelegt. Er schrie fürchterlich, als Steever ihn hochhob, um ihn auf den Tisch zu legen, dann fing er wieder an zu stöhnen. Steever hat gesagt, daß er nur noch von seiner Haut zusammengehalten wurde, daß er sich darunter angefühlt hat wie ein Armvoll Reisig. Als Marvin auf dem kleinen Tisch ganz grün und blau und blut- und dreckverschmiert aus dem Brunnen gekommen ist und seine Beine gezuckt haben wie Maisstengel, fiel meine Mutter in Ohnmacht. Fiel einfach um und lag da im Dreck. Die Hühner haben über sie weggepickt, und eine Henne, die mir danach immer verhaßt war, ist in ihr Haar getrippelt und hat ihr ins Gesicht geschaut, als würde sie überlegen, ob sie ihr ein Auge auspicken sollte. Ich war erst fünf, aber ich hab’ gewußt, daß das eine böse Henne war. Ich hab’ mir einen kleinen Stock genommen und bin ihr nach. Sie haben Marvin ins Zimmer von meinen Eltern gebracht, und der Taglöhner, ein junger Kerl von den Masons, fing an, das Blut abzuwaschen. Er hat’s wirklich vorsichtig gemacht, aber er hat so ein Knistern wie von Papier gehört, als er Marvins Stirn abgewischt hat. Und da hat er begriffen, daß es keinen Zweck hat, hat leise den blutigen Waschlappen in die Schüssel gelegt und ist rausgegangen. Marvin hat zum Sterben die ganze Nacht gebraucht, aber die Augen hat er nicht mehr aufgeschlagen. Er war bewußtlos. Meine Mutter ist nicht ein einziges Mal in das Zimmer rein. Blieb draußen im Flur und ist abwechselnd ohnmächtig geworden und in Tränen ausgebrochen. Das hab’ ich ihr jahrelang vorgehalten.« Und der brutal eigensüchtige Kummer der Mutter leuchtete wieder einmal auf wie eine Reklametafel, daß alle ihn sehen und erschaudern konnten. Großmutter
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