Power Down - Zielscheibe USA (German Edition)
vorübergehende Abwechslung, die die Ankunft des Tankers bot, entspannender, als er es für möglich gehalten hätte. Die Aussicht, die sich auf Deck bot, war ebenfalls nicht schlecht. Der vergehende Tag im Westen machte einem spektakulären Sonnenuntergang Platz. Im Osten spiegelte sich das schwindende Licht in der gewaltigen Industriestadt aus Rohrleitungen, Stahl und Fackelanlagen.
»Wo kommst du gerade her?«, wandte sich Dewey an Pablo. »Aus New York?«
»New York, Miami, dann London.«
»Meine Schwester lebt in London. Wir hatten dort ein tolles Wochenende. Fußball, Picknick und solche Sachen.«
»Ich mag London.«
Eine Zeit lang redeten sie über London und England. Nachdem sie ausgetrunken hatten und Pablo aufstand, um nachzuschenken, musste Dewey an die brutale Messerstecherei an Deck denken, auf eben jenem Deck, das im Zwielicht der Abenddämmerung von diesem Punkt aus so ruhig und friedlich wirkte. Pablos gelassene Stimme trug dazu bei, ihn zu beruhigen, er entspannte sich und vergaß für eine Weile den Gewaltausbruch der vergangenen Nacht.
Allerdings nicht lange. Als sie wieder in den Speisesaal gingen und der Alkohol allmählich Wirkung zeigte, stellte Dewey erstaunt fest, dass er immer nüchterner wurde, je mehr er über die Aussicht auf eine weitere blutige Nacht auf Capitana nachdachte.
»Beschäftigt dich was?«, fragte Pablo. »Du wirkst irgendwie abwesend.«
»Gestern Nacht wurden zwei Männer getötet.«
Pablo schluckte. »Was? Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Nein. Messerstecherei. Verdammt blutig.«
Pablo schüttelte mitfühlend den Kopf. »Das ist ja furchtbar. Wenn es etwas gibt, das ich ...«
»Es könnte sein, dass ich dich morgen brauche, um ein paar Männer an Bord zu nehmen. Ich will ein paar Unruhestifter von hier fortschaffen.«
»Sag einfach Bescheid. Ich nehme jeden mit, den du willst.« Pablo blickte Dewey fest in die Augen. »Dich eingeschlossen. Du siehst müde aus, alter Freund. Vielleicht brauchst du auch mal Ferien. Wann warst du das letzte Mal in Cali?«
»Kann mich nicht erinnern.«
»Dachte ich mir! Was meinst du? Nimm dir ein Wochenende oder eine ganze Woche frei. Du siehst wirklich aus, als könntest du ein bisschen Ruhe gebrauchen. Wie wärʼs?«
»Ich kann nicht. Nicht bei der jetzigen Lage auf der Bohrinsel. Ein andermal.«
Sie aßen zu Abend und schafften es, dabei zwei Flaschen Rotwein zu leeren. Sie sprachen nicht mehr über das Thema. Kurz nach Mitternacht kehrte Dewey auf die Plattform zurück und ging in sein Büro.
Sogar jetzt, um Viertel nach zwölf, war am Himmel ein seltsames Leuchten zu sehen. Teilweise lag es am Gas, das aus den Fackelanlagen strömte – den orangefarbenen, rauchgeschwängerten Hitzewellen, die östlich der Bohrinsel flimmernd in die Ferne trieben und sich allmählich auflösten. Aber zum Teil lag es auch am Horizont. Um diese Jahreszeit schien das Licht nie ganz zu verlöschen.
Dewey sah ein paar Sekunden lang zu, wie auf dem Deck eine Gruppe von Seeleuten mehrere Ansaugstutzen in einen anderen Teil des Tankers schleppte. Als sie damit fertig waren und verschwanden, richtete Dewey seinen Blick wieder auf den Horizont. Er versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Er musste aufhören, ständig darüber nachzudenken, was möglicherweise passierte oder auch nicht passierte, und sei es auch nur für wenige Minuten.
Langsam nickte Dewey in dem großen Sessel ein.
Unvermittelt wurde er von einem Klopfen an der Kajütentür geweckt. Er musste mehrere Stunden geschlafen haben. Das Licht brannte noch. Seine Augen gewöhnten sich an die Helligkeit und er ließ den Blick durch den Raum schweifen. Sein Kopf schwirrte von zu viel Wein. Dewey beugte sich vor und stand auf. Eilig schritt er quer durch sein Büro zur Tür.
»Was gibtʼs?«, fragte er, als er öffnete. Es war einer seiner Vorarbeiter, Baroni.
»Du musst kommen.« Tiefe Sorgenfalten zeichneten sich auf Baronis Stirn ab.
»Was ist los?«
»Jonas.«
Dewey blieb stehen und sah auf die Uhr an der Wand. Es war vier Uhr morgens.
Er zog seine Arbeitsschuhe an und folgte Baroni. Das Klatschen, mit dem die Brandung gegen die Plattform schwappte, verband sich mit dem steten Summen des Rohöls, das in den Frachtraum der Montana rauschte. Draußen war es dunkel, aber Halogenscheinwerfer badeten das Deck in Helligkeit.
Sie rannten an der Seite des riesigen Tankers entlang.
»Warum überwacht niemand den Tankvorgang?«
»Das wirst du gleich sehen.«
Sie passierten
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