Power Down - Zielscheibe USA (German Edition)
das »Hotel« und erklommen die östliche Treppe zum Seedeck. Ein Stück weit voraus versammelte sich eine kleine Schar von Männern. Rote Strahler vom Unterdeck warfen ein gedämpftes Licht auf die Szenerie.
Dewey kam es vor, als bewege er sich in Zeitlupe.
»Vor ein paar Minuten wollte ich aufs Klo gehen«, sagte Baroni, als sie ihr Ziel erreichten.
Dewey schob sich durch die Umstehenden. Auf dem Fußboden der Toilette lag der Leichnam von Jonas Pierre, seitlich vor der Kloschüssel zusammengekrümmt. Die Hände waren auf seinem Rücken gefesselt. Große blaue Augen starrten blicklos ins Leere, blutunterlaufen. Sie traten fast aus den Höhlen. Ein Stück Draht schnitt ihm tief in den Hals, deshalb war sein Gesicht blau angelaufen. Jemand hatte ihn erdrosselt.
Dewey sagte kein Wort, als er sich neben Pierre kniete. Pierre war gerade mal 30 Jahre alt. Er hatte Familie in Florida, eine Frau namens Emily und zwei Töchter.
»Eine Zange«, sagte Dewey leise. »Holt mir eine Zange!«
Eine Minute später reichte einer der Männer Dewey das gewünschte Werkzeug. Dieser griff hinab, durchtrennte den Draht im Nacken des Toten und ließ Pierres Kopf in seine Hände sinken, ehe er ihn sanft auf dem Stahlboden ablegte. Er beugte sich über ihn und drückte ihm behutsam die Augenlider zu.
»Weckt Barbo auf«, befahl Dewey, ohne den Blick vom Boden abzuwenden. Er schloss die Augen und rieb sich die Nasenwurzel, während er überlegte. »Sagt ihm, er soll Jonas für die Bestattung vorbereiten. Sagt ihm, die Männer tragen den Leichnam zur Hebebühne runter. Dorthin soll er mit den Gewichten kommen. Sofort!«
»Okay.«
Dewey stand auf.
»Baroni, ich will, dass alle Vorarbeiter zur Bestattung kommen. Geh und weck sie. Abgesehen vom Beladen der Montana, das wir noch zu Ende bringen, werden sämtliche Förderarbeiten auf Capitana sofort eingestellt. Die Männer bleiben in ihren Unterkünften, alle, mit Ausnahme der Vorarbeiter und deiner Crew. Verstanden?«
»Ja, Sir!«
Dewey ging erneut neben Pierre in die Knie. Er dachte an das Gerber-Kampfmesser, das er dem anderen gegeben hatte. Pierre trug die Scheide noch immer, allerdings war sie leer. Er durchsuchte den Toten. Keine Spur von dem Messer.
»Halte nach einem schwarzen Messer Ausschau, zweischneidig, mit Wellenschliff, 20 Zentimeter lange Klinge, Heft mit Klebeband umwickelt. Es gehört mir. Jonas trug es bei sich.« Er schielte zu den Männern, die draußen vor der Tür standen. Sie schwiegen. Er bemerkte die Furcht in ihren Augen.
»Ihr vier schleppt die Leiche runter zur Hebebühne.«
Dewey ging zurück in seine Kajüte, drehte den Hahn im Badezimmer auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Ein kurzer Blick in den Spiegel. Seine Augen waren blutunterlaufen, die dunklen Ringe darunter wirkten wie Tränensäcke. Er sah aus wie ein Haufen Scheiße.
Er schloss die Augen und beugte sich über das Waschbecken, versuchte, nicht an Pierre zu denken. Dennoch war ihm klar, dass er die Schuld trug. Er hatte den anderen in dem Moment zum Tode verurteilt, als er ihn um Hilfe bat; in dem Augenblick, in dem er ihm das Messer in die Hand drückte. Er schüttelte voller Scham und Bedauern den Kopf und spritzte sich noch mehr Wasser ins Gesicht. Er musste stark bleiben.
Als das Dunkel der Nacht allmählich dem fahlen Zwielicht des Morgengrauens wich, erhielt Pierre seine Seebestattung. Alle 24 Vorarbeiter standen an der Hebebühne, als Barbo an der Winde kurbelte und den inzwischen mit Gewichten beschwerten und in eine Plane gehüllten Leichnam des jungen Mannes mit einem leisen Platschen ins lockende Meer gleiten ließ.
Dewey blickte nach oben. Diesmal sah niemand aus der Mannschaft zu. Er ging zur Treppe und blieb auf der zweiten Stufe stehen, sodass er seine Männer im Blick hatte.
»Lass deine Nachtschicht noch so lange bleiben, bis die Montana beladen ist«, sagte er zu Baroni.
»In Ordnung!«
»Der Rest von euch wird die Unterkünfte Zimmer für Zimmer durchsuchen. Jeden Raum, jede Koje, jede Schublade in jedem Schrank, jede Kommode, jede Toilette, jeden Mann. Geht zu zweit vor. Wenn ihr mit einem Raum fertig seid, kennzeichnet ihn mit einem Klebestreifen an der Tür. Wenn sich einer beschwert, bringt ihn sofort auf meine Anweisung hin in die Arrestzelle. Sollte es Ärger geben, zu Streit oder Gewalt kommen, was auch immer, drückt den Alarmknopf neben der Tür. Wenn jemand versucht, sich zu wehren, setzt jedes notwendige Mittel ein, um den oder die
Weitere Kostenlose Bücher