PR Lemuria 03 - Exodus der Generationen
spielte keine Rolle. Der Schmerz fraß sich durch die Mauer der Betäubung, die ihn bisher geschützt hatte, so erbarmungslos und intensiv, dass Deshan glaubte, ebenfalls sterben zu müssen, hier und jetzt.
Die Sonne verschwand hinter den Bergen, als das Boot zum Zentrum mnemonischer Besinnlichkeit zurückkehrte, und dort, in einem großen Saal, erwartete die Trauergäste eine einfache Mahlzeit zu Ehren der Verstorbenen. Deshan nahm ebenfalls am Tisch Platz, brachte aber keinen Bissen hinunter. Nach einer Weile ertrug er es nicht länger, und während einer der Honoratioren aus Marroar noch eine Rede hielt, nahm er seinen Gehstock, stand auf und wankte nach draußen. Tamaha, Milissa und Erron wollten ihm folgen, aber er schickte sie mit einem Wink in den Saal zurück.
Suen leuchtete über dem See, und sein silbergraues Licht spiegelte sich auf dem Wasser wider. Deshan hinkte an einigen jungen Chronisten vorbei, die im Zentrum mnemonische Techniken erlernten und sich respektvoll vor ihm verbeugten. Es war nicht weit bis zum Ufer, und dort ragten mehrere lange Anlegestege in den See hinein. Deshan betrat einen, und sein Gehstock klopfte dumpf auf altes Holz, als er über den Steg ging, ohne den Booten rechts und links Beachtung zu schenken. Am Ende blieb er stehen, sah zum Mond empor und blickte dann über den See hinweg.
Er fühlte sich so allein wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Irgendwann hörte er das Geräusch von Schritten, die sich näherten, aber er drehte sich nicht um.
Der Kurat Entaron legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Das lange weiße Haar und der weiße Bart passten gut zu dem Umhang -er wirkte fast wie eine der mystischen Gestalten, von denen die Legenden berichteten, die Deshan im Turm der Wahrheit gelesen hatte.
»Leben und Tod gehören zusammen«, sagte Entaron.
»Das Leben ist so schrecklich kurz«, erwiderte Deshan leise und blickte noch immer über den See, in dem Mira ruhte. »Und es gibt noch immer so viele Dinge, über die ich gern mit Mira gesprochen hätte.«
»Zwischen euch hat es immer eine besondere Verbindung gegeben. Sprich hier mit ihr. Ich bin sicher, ihre Seele hört dich.«
»Wenn es so etwas wie eine Seele gibt, die auch nach dem Tod existiert.«
»Zweifelst du daran?«, fragte Entaron sanft.
»Wenn es keine Seele gibt, so endet das Leben mit einer riesigen Verschwendung«, sagte Deshan. »Über viele Jahre hinweg sammelt man Erfahrungen, lernt, wird reifer und weiser, und dann, im Augenblick des Todes, geht alles verloren.«
»Ich bin davon überzeugt, dass ein Teil von uns nach dem Tod weiterlebt.«
»Aber du kannst es nicht beweisen.«
»Nein, beweisen kann ich es nicht. Aber jeder von uns wird eine Antwort auf diese Frage bekommen, früher oder später. Im Augenblick des Todes, dem niemand entrinnen kann.«
»Da irrst du dich«, sagte Deshan. »Man kann dem Tod entrinnen. Es gibt einen lebenden Beweis dafür.«
»Du meinst Levian Paronn. Auch er wird einmal sterben.«
»Er ist unsterblich.«
»Er altert nicht. Was aber nicht bedeutet, dass er wirklich unsterblich ist.«
Der Schmerz kehrte zurück, das Gefühl, Opfer einer enormen Ungerechtigkeit zu sein. »Mira, meine Mira... Wie kann ich ohne sie jemals wieder lächeln?«
»Bewahre sie in dir«, sagte der Kurat. »Bewahre all die schönen Dinge, die ihr gemeinsam erlebt habt, die euch verbunden haben. Lass sie in deiner Erinnerung weiterleben.«
Aber das genügt nicht!, heulte es tief in Deshan. Ich will sie zurück! Und gleichzeitig wusste er, dass nichts unmöglicher war als dies.
»Bitte lass mich allein«, sagte er leise.
Entaron klopfte ihm noch einmal auf die Schulter und ging.
Deshan Apian lauschte den Wellen, die an den Steg klatschten, dem Knarren der Boote, und er wünschte sich nichts mehr, als noch einmal Miras Stimme zu hören. Zeit verging, während er versuchte, mit dem Schmerz und der Leere in seinem Innern fertig zu werden, und schließlich näherten sich ihm erneut Schritte.
»Ich habe dich gebeten, mich allein zu lassen, Entaron«, sagte Deshan.
»Ich bin nicht Entaron«, erklang eine andere, vertraute Stimme, und Deshan drehte sich um.
Der Mann, der auf dem Boot und im Saal gefehlt hatte, stand vor ihm: Levian Paronn, halb so alt wie er. Deshan sah ihn wortlos an.
»Ich weiß, was du jetzt empfindest«, sagte Paronn. »Auch ich habe einmal eine Person verloren, die mir viel bedeutet hat. Der Schmerz scheint unerträglich zu sein, aber dies ist wichtig, Deshan: Er lässt
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