PR NEO 0057 – Epetrans Geheimnis
drauflosgeschlagen – genau das Gegenteil dessen, was ich nun von meinem Gefährten erwartete.
»Wir werden sie befreien«, versicherte ich Iwan und entschied mich, noch einen Schritt weiterzugehen. »Balishen – wir brauchen deine Hilfe. Und die der Männer und Frauen deiner Karawane.«
»Wir sollen mit euch auf die Suche gehen?«
»Ich weiß, dass ihr eine Handelskarawane seid und deshalb Verlust machen werdet, wenn sich euer Aufbruch verzögert«, sagte ich. »Darum werden wir euch für eure Hilfe bezahlen.«
Balishen streckte abwehrend die Hände aus. »Wenn wir euch helfen – falls wir uns so entscheiden –, dann nicht, um Geld zu verdienen. Einer Arkonidin beizustehen, sei sie nun eine von uns oder nicht, ihr möglicherweise das Leben zu retten, das ist mehr wert als Geld. Aber da ist etwas anderes.«
Wir schauten ihn fragend an.
»Ihr wolltet mit uns gehen, um diesen verrückten alten Arkoniden namens Onat da Heskmar zu finden. Es schien euch sehr wichtig zu sein.«
Das war es auch. Aber Ishy Matsus Leben war noch wichtiger.
Tatsächlich?, fragte der Extrasinn. Wichtiger, als die ganze Erde zu retten und Arkon vor großem Unheil zu bewahren?
Es lässt sich nicht vergleichen oder gegeneinander abwiegen, antwortete ich gedanklich. Aber Ishy Matsu steht uns näher. Ihr Schicksal liegt direkt vor uns, und wir sehen es. Darum scheint es viel mehr zu wiegen als das vieler anderer, von denen wir wissen, die wir aber niemals treffen werden.
Wiegt ein Leben in der Waagschale mehr als das von Millionen? Oder weniger? Oder genauso viel?
Diese Frage kann ich dir nicht beantworten.
Ich weiß. Niemand kann das. Selbst alle Weisheitslehrer im Faehrl könnten keine zufriedenstellende Antwort geben.
»Wir müssen diesen Onat finden«, sagte ich; der Gedankendialog war so schnell verlaufen, dass Balishen keine Verzögerung bemerkte. »Aber jetzt ist uns unsere Kameradin wichtiger.«
Der Karawanenführer schwieg und überlegte offensichtlich, ob er samt seiner Leute meiner Bitte nachkommen sollte. »Wie ihr wollt«, sagte er schließlich. »Wir helfen euch.«
Ishy Matsu
Plitsch.
Irgendwo in der Dunkelheit tropfte Wasser. Ein ruhiges, langsames, kaltes Geräusch.
In Ishys Träumen vermischte es sich mit dem Regen, der in dem kleinen japanischen Dorf ihrer Kindheit den Staub von den Straßen spülte und von den Fenstern ihres Elternhauses. Nur von ihrem Leben konnte der Regen den Staub nicht hinwegspülen und von dem ihrer Familie ebenso wenig.
In ihrem Traum war Ishy zurück in ihrer Kindheit, und sie war heute von einem Baum gefallen. Ihr Kopf schmerzte, aber ihre Eltern eilten nicht herbei, um sie zu trösten. Sie arbeiteten als Buchhalter in der einzigen größeren Firma im Dorf. Ein staubiges Leben. Staubig wie Wüstensand.
Wüstensand?, dachte sie, und fast wäre sie aus ihrem Traum aufgeschreckt.
Doch sie blieb weiter bei den Bildern der Vergangenheit. Ihre Eltern waren nicht da, aber Yoni schon. Sie liebte ihn bereits so lange. Er war drei Jahre älter als sie, dreizehn, und er war stark und freundlich. Er fand sie unter dem Baum und sagte: »Dein Kopf blutet ja, Ishy.«
Dein Kopf blutet?, doch sie wachte immer noch nicht auf.
Yoni fasste ihr Haar an und schob es beiseite. Ein Schauer kribbelte über ihren Nacken und lief den Rücken hinunter. Es war süß, verliebt zu sein. Aber wahrscheinlich dachte er nur, dass sie ein kleines Mädchen war, niedlich vielleicht, aber eben ein Kind. »Ich bring dich ins Haus«, sagte er, und er war so stark, dass er sie mit Leichtigkeit hochhob und mit sich trug. Wie schön das war.
Wie schön.
Aber in Wirklichkeit war es nicht schön, denn nicht Yoni trug sie, sondern ein Taa, und Ishy begriff das mit brutaler Deutlichkeit, als sie aus dem Schlaf hochschreckte, als ihr ein Wassertropfen auf die Stirn klatschte: Plitsch.
Wie gern hätte sie weitergeschlafen. Wie gern sich zurück in Yonis Arme phantasiert, den sie ihre ganze Kindheit über geliebt hatte, bis er weggegangen und nie wieder zurückgekommen war. Die Stadt hat ihn gefressen, sagten die anderen Kinder, und sie meinten Tokio. Dorthin war Yoni mit seiner Familie gezogen.
Der Taa legte sie ab. Was für ein Hohn – er ging dabei fast sanft vor, als wäre sie eine zerbrechliche Puppe. Nur dass er beim Überfall nicht so zimperlich gewesen war.
Ishy begriff, dass sie einen winzigen Vorteil hatte, den sie nicht verschenken durfte. Der Taa wusste nicht, dass sie aus dem Ohnmachtsschlaf
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