PR Odyssee 06 - Die Lebensboten
die Zerfallsprodukte aus der Zukunft >zurückkämen<. Im Prinzip würde es also ausreichen, einige Kilogramm von Elementen wie Rhenium-187 und Samarium-147 zu inspizieren, deren Halbwertszeit in der Größenordnung von 100 Milliarden Jahren liegt, um Anzeichen dafür zu entdecken, dass unser Universum einmal kollabieren wird. Man könnte dann Kosmologie betreiben, ohne aus dem Fenster zu sehen. Schulman ist allerdings skeptisch: Vermutlich reichen selbst alle Rhenium- und Samarium-Atome in der Milchstraße nicht aus, um den Effekt im Lauf eines Menschenlebens zu messen. Außerdem könnten quantenphysikalische Feinheiten - etwa die Dauer eines Quantensprungs - die Prognosen zunichte machen.
»Ich denke aber, dass andere Prozesse aufschlussreich wären, die wirklich langsam sind und weite Bereiche des Universums umfassen«, meint Schulman. Er denkt dabei an Galaxien und Galaxienhaufen: Deren Verteilung und Bewegung hängt empfindlich von den Anfangsbedingungen im frühen Universum ab und kann in großen Supercomputern inzwischen sehr detailliert berechnet werden. Wenn sich Theorie und Beobachtungen nicht in Einklang bringen lassen, wäre dies vielleicht ein Indiz für Einflüsse aus der Zukunft. Die großräumigen Strukturen im Universum hätten gleichsam eine Erinnerung an die Zukunft.
Skepsis und Big Brunch
Wie Schulman meinen auch Claus Kiefer, Physik-Professor an der Universität Köln, und H. Dieter Zeh, emeritierter Physik-Professor an der Universität Heidelberg und vielleicht der renommierteste Zeitpfeil-Experte weltweit, dass in einem kollabierenden Universum die Zeit
- relativ zu der im expandierenden Universum - rückwärts läuft, und dass dies niemand bemerken könnte, da auch die Astronomen dieser Epoche eine Ausdehnung des Weltraums beobachten würden. Anfang und Ende des Universums wären wie exakte, ununterscheidbare Spiegelbilder. »Das sind in der Theorie der Quantengravitation dieselben Zustände«, sagt Zeh. Er verschmilzt daher die Begriffe >Big Bang< (Urknall) und >Big Crunch< (Endknall) augenzwinkernd zum >Big Brunch<.
Stephen Hawking, Professor an der University of Cambridge, kam ebenfalls zu der Erkenntnis, dass Ur- und Endknall thermodynamisch äquivalent sein müssen, also ein quanten-kosmologischer Big Brunch. Das war 1985, nachdem er mit James B. Hartle von der University of California in Santa Barbara ein eigenes Weltmodell - eine Lösung der Wheeler-De-Witt-Gleichung - entwickelt hatte. Allerdings widerrief er drei Jahre später die Annahme der Zeitumkehr beim universalen Kollaps - nach einem Einwand von Don N. Page, der heute Physik-Professor an der kanadischen University of Alberta in Edmonton ist. Hawking: »Mir wurde klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte.« Urknall und Endknall sind, so führte Hawking später weiter aus, doch nicht symmetrisch.
Dies entspricht den gängigen Vorstellungen von einem kollabierenden Universum, wie sie die britischen Physiker Martin Rees, Paul Davies und Roger Penrose entwickelt haben. Danach kehrt sich der Zeitpfeil nicht um, sondern bleibt erhalten. Hypothetische Astronomen der Zukunft würden also beobachten, wie die Galaxien sich immer näher kommen und die Temperatur des Weltraums steigt. Schwarze Löcher würden jedoch weiter Materie verschlingen und dabei ständig größer werden, bis sie im finalen Stadium des Universums verschmelzen und immer mehr Raum einnehmen. Der Endknall wäre somit kein Spiegelbild des gleichförmigen Urknalls, sondern extrem inhomogen. Auch die Entropie würde bis zum Schluss wachsen, denn ihr größter Anteil steckt in den Schwarzen Löchern.
»Im Rahmen einer halb klassischen oder gar klassischen Theorie ist diese Betrachtungsweise konsistent. Der springende Punkt ist aber, dass die Wheeler-DeWitt-Gleichung in der
Quantenkosmologie selbst prinzipiell keinen Unterschied zwischen Urknall und Endknall machen kann«, widerspricht Claus Kiefer. »Beide lassen sich nur unterscheiden, wenn eine klassische Raumzeit existiert. Das ist gemäß der Theorie der Quantengravitation jedoch nicht der Fall.« Daher wachsen - so die verblüffende Konsequenz - auch Schwarze Löcher nicht ewig weiter, sondern werden im kollabierenden Universum wieder zu Sternen, die von allen Seiten Licht einsammeln und sich schließlich in Urgas zurückverwandeln. »Es hat den Anschein, dass Hawking ursprünglich gar keinen Fehler gemacht hat«, sagt H. Dieter Zeh. »Sein Fehler war vielmehr, dass er wegen einer halbherzigen Verwendung der
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