PR Odyssee 06 - Die Lebensboten
Situation ist symmetrisch.« Darin liegt die eigentliche Provokation von Golds Hypothese -aber zugleich eine Chance, die Zeitrichtung zu erklären.
»Die Expansion oder Kontraktion des Weltraums ist für den Zeitpfeil verantwortlich«, meint auch Lawrence S. Schulman, der an der Clarkson University in Potsdam, US-Bundesstaat New York, forscht. »Kaffee kühlt ab, weil der Quasar 3C273 sich immer weiter entfernt«, spitzt er die Hypothese zu und meint damit dieselbe Ursache beider Prozesse. Entscheidend dabei sei, dass sich die Zeitrichtung nur in der makroskopischen Welt bemerkbar macht, nicht in der Welt der Atome. »Der Zeitpfeil ist kein mikroskopischer Parameter.«
Doch wie kann sich ein Zeitpfeil umdrehen? Was würde geschehen, wenn der Weltraum sich zu seiner maximalen Größe ausgedehnt hätte und unter dem Schwerkraft-Einfluss der Materie wieder zu kontrahieren begänne?
»Das hängt davon ab, wie viel Zeit zwischen Ur- und Endknall vergeht«, sagt Schulman.
»Wenn das Intervall groß genug ist, sodass sich in der Mitte ein thermodynamisches Gleichgewicht einstellt, existiert kein Zeitpfeil mehr, der sich umkehren könnte.« Denn dann gäbe es keine makroskopischen Objekte, die ihn anzeigen würden. Doch vermutlich begänne der Weltraum viel früher zu kontrahieren. In jedem Fall werden die Zeiger der Uhren nicht plötzlich anhalten und rückwärts gehen. Man würde subjektiv nicht verkehrt herum leben, sich auf der Toilette Materie einverleiben und sie am Mittagstisch vom Mund auf den Teller legen, immer jünger werden und schließlich im Mutterbauch verschwinden, wie es der britische Schriftsteller Martin Amis in seinem Roman Pfeil der Zeit (Time's Arrow, 1991) eindrucksvoll beschrieben hat. Denn auch das bewusste Erleben würde sich umdrehen, und keiner könnte die veränderte Zeitrichtung bemerken. Selbst der Weltraum schiene sich für Astronomen weiter auszudehnen.
Das sind verblüffende - und manche sagen: unglaubliche - Schlussfolgerungen. Doch was der Alltagserfahrung verborgen bliebe, könnten subtile Phänomene in der Natur doch verraten. Die entscheidende Frage dabei ist, ob das zeitverkehrte Universum der Zukunft - oder jedenfalls einzelne Bereiche davon - gleichsam aus dieser Zukunft durch unsere Gegenwart in unsere Vergangenheit laufen könnte. Mit anderen Worten: Sind Systeme mit entgegengesetzten Zeitpfeilen im selben Raumbereich möglich, können sie sich quasi durchdringen und dabei wechselseitig bemerkbar machen?
Mit Computersimulationen versuchte Schulman zu zeigen, dass dies möglich ist. Das heißt, es könnte zeitverkehrte Inseln geben, deren Zeitrichtung entgegengesetzt zu ihrer Umgebung ist. Schulman schließt aus seinen Berechnungen, dass sie intakt bleiben, wenn sie ausreichend isoliert sind. Schwache Einflüsse von Schwerkraft und Elektromagnetismus würden die gegenläufige Zeitrichtung nicht zerstören. Tatsächlich könnten sich solche zeitverkehrten Regionen in unserer Nähe befinden - vielleicht nur wenige Lichtjahre entfernt. »Die Gravitation dieser Orte ließe sich messen. Solche zeitverkehrte Materie würde alle Eigenschaften der unsichtbaren oder Dunklen Materie haben, von der wir annehmen, dass sie den Großteil der Masse unseres Universums ausmacht«, spekuliert Schulman. Denn wenn die Materie aus einer fernen Zukunft stammt, wären dort längst alle Sterne erloschen. Denkbar wäre auch, dass die Dunkle Materie aus einer Kollision zwischen normaler Materie und ausgebrannten kosmischen Leichen einer fernen Zukunft entstand und gar keinen Zeitpfeil mehr besitzt.
»Die Dinge, die heute geschehen, könnten von den Randbedingungen am Ende des Universums beeinflusst werden«, sinniert Schulman und stellt damit unser gewöhnliches Verständnis von Ursache und Wirkung auf eine Zerreißprobe. »Ob es den umgekehrten Zeitpfeil in unserem Universum gibt, müssen Beobachtungen zeigen. Ich sage nur, dass es von der Theorie her nicht ausgeschlossen ist.« Schulmans Überlegungen wurden von seinen Kollegen mit großem Interesse, aber auch einer gehörigen Portion Skepsis aufgenommen.
Eine Möglichkeit, der verkehrten Zeit auf die Spur zu kommen, hat John Wheeler von der University of Texas in Austin bereits in den siebziger Jahren vorgeschlagen: Zerfallsmessungen radioaktiver Elemente mit extrem langen Halbwertszeiten. Dieser Zerfall geschieht normalerweise exponentiell. Aber wenn die Zeit künftig die Richtung wechselt, müsste der Zerfallsmodus schon heute anders sein, weil
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