PR TB 217 Das Mittelmeer Inferno
zur Seite,
legten Dolche und Holzbretter auf die Enden des dünnen,
stockfleckigen Leders und deuteten auf die schraffierten Flächen.
Mit der Spitze des Dolches zeigte Charis - ich sah nicht zum
erstenmal, daß sie wunderschöne, schlanke Finger hatte,
ohne jede Tätowierung - auf das Festland im Süden, auf
Tyrrhenien und das Nildelta.
„An diesen Orten war ich bereits; ich fand günstige
Schiffe. Die Menschen dort wissen, was geschehen wird."
In einer Welt, in der fast jede Nachricht Monde oder halbe Jahre
lang brauchte, um von Ägypten nach, beispielsweise, Keftiu zu
gelangen, würden viele Warnungen vergessen sein, wenn das
Schicksal zuschlug. Daß die Menschen der Bronzezeit mit ihren
kurzen Schwertern, Kampfbeilen, Pfeilen und Speeren, den Schleudern
und ihren Rossegespannen gegen die Ungeheuer des Dimensionsreiters
ankämpfen konnten, war ausgeschlossen und selbstmörderisch.
Ich lehnte mich zurück, suchte den Blick von Charis' dunklen
Augen und sagte voller Skepsis:
„Die Küsten, an diejene Welle schlagen wird, sind also
gewarnt. Von dir oder von uns."
„Und vielleicht auch von jenen anderen, den bärtigen
Männern in den goldenen Helmen, die jungen Männer in den
schweren Rüstungen, mit den runden Schilden, die wir in der
Grotte gesehen haben?" fragte Charis, mich unterbrechend.
„Vielleicht auch das. Und was soll in diesen neunzig Tagen
geschehen? In rund drei Monden? Weißt du eine Antwort?"
„Nein. Aber in den nächsten Tagen haben wir genug
Zeit", antwortete sie. „Fühlt euch als Gäste.
Ein alter,
kluger Mann herrscht über Kition; mein Freund. Er ist
dankbar, daß wir ihn gewarnt haben." „Danke. Das
beruhigt uns. Und du kamst mit der weißen Bireme hierher?"
„Ja. Ich traf den Kapitän im Hafen von Melos!"
„Bei Zeus! Wie kam er von Stronghyle nach Melos? Mit
gebrochenem Ruder und heruntergeschnittenem Segel?" rief Nestor
lachend und hielt einer Dienerin seinen leeren Becher entgegen.
„Er ließ rudern", lachte Charis. „Und er
schwor, euch bis über die Säulen des Melkart hinaus zu
verfolgen."
Diese Meerenge bezeichnete die kleine Trennung zwischen dem
riesigen Binnenmeer und dem freien Meer im Westen. Ein
großsprecherischer Schwur dieser Art setzte mehr als nur zwei
hervorragende Schiffe und ebensolche Kapitäne voraus.
„Er ist hier?" wollte Ptah wissen. Charis nickte und
bedeutete den Dienerinnen, den Tisch abzuräumen. „Graios
ließ sich von mir überzeugen. Trotzdem zählt er
sicher nicht zu euren lebenslangen Freunden."
„Wir werden's verschmerzen", sagte ich beruhigt.
„Außerdem haben wir die beste Mannschaft dieses Meeres.
Sie kann nicht nur segeln und rudern, sondern auch hervorragend
kämpfen." Charis lächelte uns reihum an. Der Lärm
des Festes, das trotz des kalten Windes bis hier hereindrang, wurde
lauter. Unsere Verwirrung war nicht viel geringer geworden: trotz der
neuen Erfahrungen. Neunzig Tage Zeit, das Verhängnis kam näher,
und wir hatten in jedem größeren Hafen getan, was wir
konnten.
„Wir sollten zur Ruhe gehen", schlug Charis vor. „Ihr
seid völlig sicher hier. Morgen sehen wir weiter."
„Gut. Wo ist dieses merkwürdige Boot?" wollte ich
wissen.
„Im Hafen."
Wir suchten unsere Räume auf. Sie waren klein, aber sauber.
In den Kammern standen große Bottiche voll
warmem Wasser, mit streng duftenden Kräuteressenzen
vermischt. Sklaven kamen und massierten uns mit Öl, das nach
Harz roch. Ich warf meinen Mantel um die Schultern, verließ das
Haus und blickte hinunter auf den Hafen.
Der Himmel war voll treibender Wolken, zwischen denen die Sterne
und der Vollmond immer wieder auftauchten und verschwanden. Das
Wasser der See jenseits der Bäume und der Feuer schien eine
reglose schwarze Fläche zu sein. Viele Fackeln und Öllampen
waren ausgegangen. Nur undeutliche Bewegung, und meist die von
schwankenden Gestalten, war zu sehen. Noch immer brannten einzelne
Feuer, und ihre Flammen spiegelten sich zwischen den Booten, den
Schiffen und dem Treibgut wider.
Neben dir, wisperte das Extrahirn.
Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, daß Charis
neben mir stand. Ihr Körper roch aufregend nach Ölen oder
Harzen, die ich nicht kannte. Leise sagte ich:
„Was wirst du tun, wenn alles vorbei ist und wir noch
leben?"
Hin und wieder überfielen mich wieder die Gedanken an das
gigantische, fast nicht zu lösende Problem, das vor uns lag.
Auch jetzt war es nicht anders. Ich zitterte innerlich, wenn ich mir
vorstellte, wie eine
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