PR TB 246 Expedition Ins Totenreich
nach Stille, um
sich in
sich selbst zu versenken, das Gehörte zu überdenken,
kluge Antworten zu formulieren, aus der Vielzahl der Möglichkeiten
die richtige herauszusuchen.
Zeit, sagte sich Sayla, es ist immer die Zeit, die einem fehlt.
Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Erinnern, Zeit zur Ruhe. Und Tayaner
Bhan hat einen ganzen Koffer voll davon. Einen Koffer voller Zeit.
Jahrtausende, die Ewigkeit gar. Mein Gott, das bedeutet: Niemand
braucht mehr zu sterben. Der Tod läßt sich durch die
Chronos nicht besiegen, aber man kann ihn ins Wartezimmer verbannen.
Man nimmt eine Tablette und denkt und lebt tausend Jahre lang. Und
läßt die Wirkung nach, nimmt man die nächste
Tablette. Man gewinnt keine Unsterblichkeit dadurch, man ist auf sich
selbst beschränkt, man beobachtet und denkt, man handelt nicht,
doch man lebt und man hat sich selbst und seine Erinnerungen. Ein
Jahrzehnte umfassendes Reservoir von Gefühlen, Bildern,
Gesprächen, Ereignissen. Sie sind nicht vergessen, nur
verdrängt, und die Chronos schenken einem genug Zeit, die
Vergangenheit und damit seine eigene Persönlichkeit
aufzuarbeiten, neu zu beleuchten, die Gewichte zu verschieben.
Ich habe mich geirrt, gestand sich Sayla ein. Die Chronos
beherbergen nicht die Hölle. Es ist nicht grausig, sich nur mit
sich selbst beschäftigen zu müssen. Im Gegenteil. Uns allen
fehlt die Zeit, uns selbst kennenzulernen, die Wurzeln unseres Seins
zu erforschen, die Geschehnisse nachzuvollziehen, die uns zu dem
gemacht haben, was wir sind. Die Chronos sind der Schlüssel zu
unserer Seele, der Schlüssel, den wir verloren haben, als wir
erwachsen wurden.
Tayaner Bhan, dachte Sayla, ist nicht verrückt. Im Gegenteil,
er weiß, was er zum Kauf anbietet. Darum seine Zuversicht, daß
sich mit einer Handvoll Pillen Millionen Solar verdienen lassen. Es
ist möglich. Bhan benötigt nur die richtigen Kontakte.
Leute mit viel Geld und guten Verbindungen. Leute wie Hlochromir, der
ein Vermögen mit Traumkristallen verdient hat und der noch immer
begierig darauf ist, seine Milliarden zu verdoppeln. Ich könnte
das Geschäft anbahnen. Hlochromir ist schlau. Er wird erkennen,
was die Chronos wert sind. Er wird seine illegalen Biochem-Labors
schließen, seine Kristallvorräte in den nächsten
Müllschlucker werfen und den galaxisweiten Drogenmarkt mit
Chronos überschwemmen. Was ist schon die Lust, die eine Droge
erzeugen kann, gegen hundert oder tausend Jahre zusätzlicher
Zeit? Was ist schon eine zwölfstündige Reise in die
Innenwelt gegen einen einjährigen Urlaub im Herz der eigenen
Seele? Der illegale Drogenmarkt wird zusammenbrechen. Die tödlichen
Rauschgifte werden mangels Nachfrage von der Bildfläche
verschwinden.
Ein anderer Gedanke blitzte in ihrem Bewußtsein auf. Aber
was ist, fragte sich die junge Frau, was ist, wenn die Chronos sich
nicht als so unschädlich erweisen, wie es Tayaner Bhan behauptet
hat? Wenn sie körperliche Abhängigkeit erzeugen oder zu
organischen Schäden führen? Ich werde sie analysieren
lassen. Ich kann Bhan nicht einfach vertrauen; die Tefroder befinden
sich in einer fast aussichtslosen Lage. Es geht um ihr Überleben.
Unter diesen Umständen sind viele Geschöpfe bereit, das
Leben anderer
gering zu erachten. Und ich muß Informationen über Bhan
einholen - am besten durch die irdische SolAb-Zentrale.
Saylas Gedanken wanderten weiter, zurück zur Erde, zu den
grünen Hügeln und blauen Flüssen, zu den Städten,
die wie Diamantensplitter über die Kontinente verteilt waren, zu
dem Himmel mit seinem freundlichen Blau und dem Watteweiß der
Wolken, zu den Wiesen an den Ufern des Rheins, auf denen sie in ihrer
Jugendzeit die Sommermonate verbracht hatte, gemeinsam mit Tausenden
anderen Jugendlichen aus allen Teilen der Welt. Sie sah Vern vor
sich, jung und braungebrannt von der Sommersonne, weiche Haut, auf
der Wassertropfen glitzerten; sie hörte sein Lachen, fühlte
seine Hände auf ihren Schultern, spürte das heiße
Glück in sterngekrönter Dunkelheit.
Erinnerungen an Mutter und Vater, wie sie in den Gleiter
einstiegen, wie sich der Gleiter vom Dach des Kölner Wohnturms
in den Himmel schraubte und dann taumelte, stürzte, und dann der
Donner und das Feuer, der Blitz am hellichten Tage. Nein!
Sayla schrak auf. Die Erinnerungsbilder verschwanden und machten
den künstlichen Gärten YANINSCHAS Platz. Nichts hatte sich
verändert. Las-Run, der Vogel, die Stahlhand, die Schwäne
und Enten im fernen Teich - noch immer war alles
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