PR TB 246 Expedition Ins Totenreich
stark, daß sie ihm nicht
mehr widerstehen konnte, sondern ihm nachgeben mußte. Er preßte
alles aus ihr heraus, das Ungesagte, das mühsam Vergessene, das
niemals Eingestandene. »Liebt mich«, schrie sie der
Finsternis zu, »haltet mich, seid gut zu mir und quält
mich nicht. Ich brauche euch, ich brauche euch so sehr, brauche so
viele Dinge, diese guten Dinge, die ihr mir immer vorenthalten habt.
Aber sie sind mein Recht, oh Gott, sie sind mein Recht, und ich
brauche sie so dringend, eure Zärtlichkeit und eure guten Worte
und eure Freundlichkeit. Denn sonst sterbe ich und sonst vereise ich,
also haltet mich. Nehmt mich fest in den Arm, streichelt mich, geht
nicht fort von mir, laßt mich nicht im Stich. Ich ertrage es
nicht. Ich flehe euch an, seid gut zu mir, zeigt mir eure
Menschlichkeit, zeigt mir, daß ihr mich mögt, ganz gleich,
was ich tu, zeigt mir, daß ihr mich liebt, und laßt mich
nicht fallen. Haltet mich, bitte, haltet mich, druckt mich fest an
euch, damit ich eure Wärme spüre und mich nicht selbst
verliere. Liebt mich, seid gut zu mir, seid gut.« Sayla schrie
noch mehr, und jedes einzelne Wort verringerte den Druck, bis ihr
ganz leicht und froh zumute wurde, als ob sie ihr bisheriges Leben
unter einer bleiernen Bürde geführt hatte, die ihr erst
jetzt bewußt wurde und mit dem Bewußtwerden gleichzeitig
an Gewicht verlor. Dies ist die Läuterung, dachte Sayla, das
Fegefeuer, das die Narben unserer Vergangenheit verbrennt. Aber es
ist ein reinigendes Feuer, sagte sich Sayla, keines, das schmerzt,
sondern eines, das die Schmerzen nimmt. Sie wurde ruhig. Heiterkeit
erfüllte sie. Sie hatte keine Angst mehr. Furcht, Verzweiflung
und Trauer gehörten zu den Dingen, die nun hinter ihr lagen.
Sie fiel, und die Umarmung des Todes war zart und warm und
liebevoll.
9. A uferstehung
Sayla Heralder öffnete die Augen.
Ich lebe, dachte sie erstaunt. Ich bin nicht mehr tot. Die
Finsternis, der bodenlose Abgrund. wo sind sie geblieben?
Dämmerung umgab sie, und einen Moment lang glaubte die Frau,
noch immer in jenem grauen Raum zu liegen, neben Tayaner Bhan, Con
Torn und den anderen, doch dann erkannte sie, daß sie sich in
ihrem Pavillon in den künstlichen Garten YANINSCHAS befand. Die
Heizdecke, die ihren nackten Körper verhüllte, war so
vertraut wie das tiefe Blau der autochromatischen Wände, wie die
Säule des Terminals, wie die Stahlhand am Fußende des
Bettes.
Ich habe das alles schon einmal erlebt, dachte Sayla verwirrt.
Déja-vu. Ich bin schon einmal auf diese Art aufgewacht und
alles war genau wie jetzt. Dann zog sie verärgert die Stirn
kraus. Unsinn! Natürlich war sie schon einmal auf diese Art
aufgewacht und und nicht nur einmal, sondern an tausend anderen
Morgen. Aber was war geschehen? Wo war ES? War das
Unternehmen fehlgeschlagen? Wieso war sie hier in ihrem Pavillon?
Und wo steckten die anderen? Irritiert versuchte sie sich zu
erinnern, aber da war nur dieser endlose Sturz in die Dunkelheit und
schließlich jene Finsternis, die Einzug in ihre Gedanken
gehalten hatte. Das war alles. Die Expedition ins Totenreich war ein
Mißerfolg gewesen. Sie waren nicht bis zu den Seelenfischern
vorgestoßen. Sie waren gestorben und als ES den Fehlschlag
erkannte, mußte ES sie wiederbelebt und in ihre Behausungen
zurückgebracht haben.
Der Zellaktivator! durchfuhr es Sayla. Wo ist der Zellaktivator?
ES. Betrogen! Das Wesen von Wanderer hat uns betrogen!
Doch sonderbarerweise empfand sie nur milde Enttäuschung. Die
Ruhe, die während des Sturzes in das Schattenland in ihr
eingekehrt war, erfüllte sie noch immer. Sie gähnte und
streckte sich.
»Troy«, sagte sie und war im nächsten Moment
überrascht, weil das Wort wie von allein über ihre Lippen
gedrungen war.
»Ich höre, Sayla«, antwortete die Stahlhand. Ihre
Metallfinger krümmten sich. Langsam kroch die Stahlhand über
die Bettdecke und verharrte neben Saylas rechter Schulter. »Ein
Mann sitzt in den Gärten«, fuhr die Stahlhand fort. »Auf
der Schwebebank, neben dem Weinbrunnen. Der Mann heißt Tayaner
Bhan. Er ist ein Tefroder. Er trägt einen Koffer bei sich. Der
Koffer ist abgeschirmt. Meine Augen können nicht sehen, was sich
in ihm befindet.«
Sayla keuchte auf.
Nein! dachte sie. Großer Gott, nein!
Das Gefühl des déja-vu war nahezu überwältigend.
All diese Worte waren bereits gesprochen worden. Tayaner Bhan - auf
der Schwebebank, mit einem Koffer voller Zeit. Bei allen Sternen,
durchfuhr es Sayla, so hat alles
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