PR TB 246 Expedition Ins Totenreich
Zorn auf die Unerbittlichkeit des Schicksals, die
Gnadenlosigkeit der Zeit. All das, von dem wir gewünscht haben,
es nur bei anderen zu finden. All das Grausen, das in unseren
Kinderherzen gewohnt hat, die Schrecken stiller Nächte, die
Furcht vor dem, was niemals eintrat. Unsere geheimsten Alpträume,
denen wir uns auch im Schlaf verweigerten, und nun hält sie
nichts mehr zurück. Wir werden zu Schatten, und Schatten sind zu
leicht für die Last dieser verdorbenen Gefühle. Sie sickern
heraus, weil das Ende des Sturzes auch ihr Ende bedeutet, und sie
sind wie dumme, rasende Tiere, die nicht ahnen, daß sie ihr
Ende so nur beschleunigen.
Und hör ihr Flüstern, dachte Sayla. Ihr heiseres
Wispern. Mit einer Stimme, die sie von uns entliehen haben, genau wie
das Leben, unser Leben. Sie lauschte. Da war die Stimme von Niccolas
Skimmish, auch wenn sie im ersten Moment fremd klang, verzerrt und
hohl. »Sie sind so grausam zu mir gewesen, sie sind so hart zu
mir gewesen, und sie wußten, was sie mir antaten. Sie wissen es
immer, und es geschieht nicht zufällig, und sie schauen mich an
mit ihren großen Augen, und sie spitzen die
rotgeschminkten Lippen zum feuchten Kuß, zum Todeskuß,
zu Küssen, die fesseln wie Ketten und brennen wie glühende
Eisen, und ihre schmeichelnden Worte, ihre falschen Worte, die alles
versprechen und alle Schwüre brechen. Und sie geben vor zu
streicheln, dabei schlagen sie, und sie geben vor zu lieben, dabei
hassen sie, und sie geben vor zu verzeihen, aber sie verzeihen nie,
und sie verdrehen mir die Gedanken und sie brechen mir das Herz, und
so ist es immer gewesen, immer und immer, und deshalb schlage ich
sie, wenn ich küssen will, und deshalb hasse ich sie, wenn ich
lieben will, und deshalb plane ich schreckliche Dinge, wenn ich
verzeihen will, und es ist ausweglos, so völlig ausweglos.«
Und Skimmish flüsterte weiter, raunte Bosheiten und Drohungen
und Flüche in das Nichts, bis das Nichts all dieses Entsetzen,
den ganzen Unrat aufgesaugt hatte. Dann fiel Skimmish. Er fiel
schneller als die anderen, er stürzte in den Schlund des Todes
und ließ die Schatten seines Lebens hinter sich zurück.
Aber kaum war sein Flüstern abgebrochen, begann eine andere
verschrobene Stimme zu raunen, giftig zu zischeln, boshaft zu
schwatzen. »Ich muß stark sein«, sagte das Etwas,
das aus K'iins Schattengestalt herausgeschwitzt wurde. »Nur wer
stark ist, kann die Schwachen treten, und die Schwachen werden immer
getreten, so wie ich getreten und geschlagen worden bin, und nur wer
Schläge austeilt, bleibt von Schlägen verschont. Man muß
Angst vor mir haben, eisige Angst, nackte Furcht, denn nur so entgeht
man selbst der Furcht und der namenlosen Qual, die es bedeutet, zu
den Starken aufsehen zu müssen. Schlag zu, laß sie die
Schmerzen spüren, diese unsäglichen Schmerzen, gegen die
keine Tränen helfen, die kein noch so lauter Schrei zu lindern
vermag, und deshalb laß die anderen vor Schmerzen schreien,
denn wenn du ihre Schreie hörst, dann weißt du, daß
du verschont geblieben bist.« So ging es in einem fort,
lasterhaftes Gerede, das unter all seiner Schlechtigkeit doch nur
Angst und Bitterkeit verbarg, und erst als es endete und sich die
Echos seiner Worte in der Nacht verloren, beschleunigte sich K'iins
bodenloser Sturz, und er verschwand wie Skimmish.
»Ich will nicht erwachsen werden«, krächzte
Tayaner Bhan. »Ich will nicht alt werden, nicht grau und
runzlig, so entsetzlich faltig. Aber die Jahre entfliehen mir, rinnen
dahin, und meine Haut wird dünn und durchsichtig wie Pergament,
der scharfe Blick meiner Augen wird trüb, meine Muskeln werden
schlaff und meine Gelenke steif und knorrig wie vertrocknete Wurzeln.
Wo sind die Jahre geblieben? Wo die glücklichen Tage meiner
Jugend, die hellen Stunden voller Lachen und Hoffnung? Zeit, du bis
ein Ungeheuer, ein seelenloses Monstrum, das uns alle frißt,
ausnahmslos alle, aber das ist kein Trost für mich. Nicht für
mich, der ich schon die Feuchtigkeit und den erdigen Moder des Grabes
rieche. Ich will jung sein, ich will stark sein und nicht so alt,
zerbrechlich und kalt. Rettet mich, ich bitte euch, rettet mich vor
der Zeit, der gnadenlosen Zeit.«
Tayaner Bhan fiel an Sayla vorbei und ließ seine Ängste,
seine Verzweiflung und seinen Haß im Nichts zurück.
Dann spürte Sayla Druck auf sich lasten, obwohl sie keinen
Körper mehr
besaß und nur noch ein Schatten war, der ins Schattenreich
stürzte, und der Druck wurde so
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