PR TB 247 Albatros
Grauheimchen so sehr erschrocken, daß er seine
Frage sofort wieder bereute. »Dir etwa schon, Poe?«
»Nein«, hatte er wahrheitsgetreu geantwortet und
verschwiegen, daß er fast ständig mit Mom wisperte. Denn
die Reaktion seiner Mutter hatte ihm
gezeigt, daß Mom für sie eine höhere Macht, etwas
Fiktives war und nicht ein lebendes Wesen. Er wollte ihren Glauben
nicht erschüttern, indem er sie wissen ließ, daß er
Zwiegespräche mit Mom führte.
Mom, magst du mich wirklich ?
Wie oft willst du es denn noch hören, daß du mir von
allen der liebste bist, Omni?
Dann zeige dich mir.
Ich bin überall um dich.
Aber ich möchte dich in deiner Gestalt sehen, Mom.
Es ist besser, du hörst mich in deiner Fantasie und siehst
mich bloß in deiner Phantasie, Omni.
Einige Tage nach dem Gespräch mit seiner Mutter faßte
er sich ein Herz und teilte sich seinem Vater mit. Er sagte
geradeheraus:
»Manchmal - eigentlich, wann immer ich will - kann ich mit
Mom wispern. Was sagst du dazu?«
Für einen Moment hellte sich das Gesicht seines Vaters auf,
er schien seine Jugend zurückzugewinnen und von einem müden
Alten zu einem Fantasiebegabten zu werden. Er sagte lächelnd:
»Ja, ja, ich weiß wie das ist.«
»Dann hast du das früher auch gekonnt? Und Heimchen
auch?«
Gutmut nickte, und dabei umspielte ein erinnerungsseliges Lächeln
seinen Mund.
»Warum hat Heimchen mir das verschwiegen?«
Sein Vater zuckte die Schultern und meinte:
»Weißt du, Poe, für unsereinen ist das alles
schon zu lange her, und manchmal erkennt man die Grenze zwischen
Einbildung und Wirklichkeit nicht mehr. Für manche Erwachsene
ist es schwer, über die eigenen Kindheitserlebnisse richtig zu
urteilen. Darum verdrängt man sie. Mom ist für deine Mutter
so etwas Unvorstellbares geworden, daß sie am liebsten nicht
darüber spricht.«
»Und was ist mit dir, Vater?«
»Ich höre lieber dich als mich sprechen.«
»Ich habe nur noch eine Frage. Hast du Mom jemals gesehen?
Durftest du Mom von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen?«
»Du grübelst wie ein Alter, Poe«, sagte Gutmut
traurig, und dabei wurde er zu einem richtigen Send, dessen jedem
einzelnen Wort die Senilität schwer anhing. »Aber ich will
es dir verraten: Ich habe Mom überall gefunden. Und ich fühle
mich heute wie damals wohl in Moms Garten.«
Poe mußte daraufhin flüchten, um seinem Vater nicht
irgendeine Grobheit ins Gehirn zu plärren.
Es war ein Morgen nicht wie jeder andere, obwohl der Tagesbeginn
seinen normalen Lauf zu nehmen schien. Aber Poe fühlte, daß
etwas in der Luft lag, wie er es nannte, wenn ihm seine Fühligkeit
für bevorstehende Ereignisse etwas Ungewöhnliches erahnen
ließ. Er wußte nur noch nicht, was ihm der
Tag bescheren würde. Er hatte schlecht geschlafen, und der
Grund dafür mochte sein, daß ihn seine Vorahnung des
Kommenden schon in der Nacht geplagt hatte.
Beim Frühstück belauschte er Grauheimchens und Gutmuts
Gedanken, doch verliefen diese in normalen Bahnen. Als seine Mutter
das Frühstück brächte - Ziegenmilch mit Käse und
Brot und Früchte aus Moms Garten -, dachte sie: Poe könnte
wieder mal was erleben...
Laut sagte sie:
»Nehmen wir Mom in uns auf.«
Sie sagte es stereotyp, wie ein pflichtmäßiges
Morgengebet. Gutmut nickte dazu, schwieg; er nahm das Frühstück
schweigend zu sich. Dabei dachte er: Es würde mich
interessieren, ob ich noch in der Lage wäre, mich Poe zu
sperren. So alt fühle ich mich doch gar nicht, ich bin nur aus
der Übung. Wenn ich mich darauf konzentrierte, eine
Gedankensperre zu errichten, müßte es mir gelingen zu
verhindern, daß Poe mich belauscht.
»Das kannst du nie, Vater«, sagte Poe nach Beendigung
des Frühstücks und verließ das Haus. Er empfing im
Fortgehen Gutmuts grüblerische Gedanken; der müde Alte war
nicht einmal in der Lage, Poes Bemerkung mit seinen vorangegangenen
Überlegungen zu assoziieren.
Das Dorf war längst aufgewacht. Vor fast allen Häusern
saßen die Erwachsenen. Sie lächelten ihm zu, wenn er an
ihnen vorbeikam, oder wünschten ihm einen guten Tag. Aus Moms
Garten, von weit außerhalb des sicheren Dorffrieds, erklang das
heisere Brüllen eines hungrigen Raubtiers, es war so weit weg,
daß Poe es nicht wispern konnte - das heißt, er hätte
es sicher aushorchen können, wenn er es unbedingt gewollt hätte.
Aber es lag ihm nichts daran.
Poe erreichte das Haus von Keß. Ihr Vater saß auf der
Altenbank neben der Eingangstür, blinzelte in die Sonne.
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