PR TB 247 Albatros
sich
in seiner Hilflosigkeit an das Bildnis eines großen, weißen
Vogels klammerte, der zu sein er wünschte?
Poe war ganz bang zumute, als er sich an Frost wandte und ihn
fragte:
»Hast du in der Fremde von einem großen, weißen
Vogel geträumt, der Albatros heißt?«
Der Junge sah ihn an. Poe erwiderte den Blick. Die Augen des
Jungen waren leer. Aber als Poe tiefer in sie drang, glaubte er, dort
einen mächtigen weißen Vogel kreisen zu sehen.
»Ist Albatros ein Vogel?« fragte Frost.
»Was hast du gedacht?« fragte Poe zurück.
»Ich denke dabei an Mom«, kam die zögernde
Antwort. »Ist das falsch?«
Poe floh. Er sprang einfach fort. Ohne ein Wort des Zuspruchs,
ohne Abschied zu nehmen. Fellmer rührte sich in seinem Geist,
aber Poe ignorierte ihn.
Mom, ich möchte zu dir. Ich möchte dich sehen. Du mußt
dich mir zeigen.
Gut, Omni. Ich fürchte, ich habe keine andere Wahl, wenn ich
dich nicht verlieren will.
Poe ließ sich von Mom leiten. Er öffnete ihr seinen
Geist und ließ sie eindringen. Er war dabei sehr zurückhaltend
und versuchte nicht, ihre Fantasie zu erforschen. Dazu war seine
Ehrfurcht vor Mom zu groß. Aber es
genügte, daß er ihre Anwesenheit in sich spürte.
Dennoch gab er sich nicht ganz auf und überließ sich ihr
nicht völlig. Die Angst, dasselbe Schicksal wie Frust und Frost
erleiden zu müssen, war tief in ihm verwurzelt.
Wie weit ist es mit dir gekommen, daß du deiner Mom schon
mißtraust, Omni. Noch kann ich dir verzeihen, aber treibe es
nicht zu weit.
Ich möchte dich sehen, Mom.
Ich hole dich jetzt zu mir. - Das bin ich!
Poe fand sich in einem wunderschönen Garten wieder, der am
Fuß eines kuppelförmigen Hügels angeordnet war und
auch über diesen reichte. Poe war ein wenig enttäuscht, daß
Mom kein Mensch sein sollte, sondern aus einer Fülle von
blühenden Pflanzen bestand.
Bist du das wirklich, Mom?
Du siehst nur das Kleid, das ich für dich trage. Es ist mein
schönstes Gewand.
Aber ich möchte zu dir.
Schweigen. Poe sah, wie sich die Blütenpracht teilte und sich
ein Weg vor ihm auftat. Er schritt ihn entlang und gelangte zum
Hügel. Wieder versperrten ihm die Pflanzen aus Moms Kleid den
Weg.
Ich muß zu dir, Mom!
Die Pflanzen wichen zur Seite und gaben einen Pfad frei, der in
Serpentinen den Hügel hinan führte. Poe beschritt ihn. Er
hatte Herzklopfen, und er fragte sich, ob er in seinem Begehren nicht
zu weit gegangen war. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
Er fühlte sich durch den Blütenduft berauscht. Er wurde
immer leichtfüßiger, meinte zu schweben, obwohl er alles
andere tat als zu wandeln. Er spürte kaum mehr Boden unter den
Füßen. In seinem Geist brandete ein Lichterspiel auf, das
ihn mitzureißen drohte. Doch als es erlosch, fand er sich auf
der anderen Seite des Hügels.
Das kann nicht alles gewesen sein, Poe! vernahm er plötzlich
Fellmers Wispern. Du mußt nach dem forschen, was der Hügel
verbirgt.
Laß es gut sein, Omni, bat Mom.
Aber Poe hörte nicht auf sie.
Poe versetzte Fellmer einen Kick, der seine Gedanken endgültig
zum Verstummen brachte. Dann konzentrierte er seine Fantasie auf den
Hügel. Er teilte mit seiner Gedankenkraft die Pflanzen, drang
durch das Unterholz und durch das Wurzelwerk weiter vor. Endlich tat
sich eine Höhle vor ihm auf, und Poe beschritt sie. Mom rührte
sich nicht, sie ließ ihn gewähren.
Poe gelangte in ein großes Gewölbe, das von
verschiedenartigen Wurzelsträngen durchzogen war. Sie waren von
der Dicke eines menschlichen Körpers, schenkeldick oder
unterarmstark, es gab aber auch haarfeine Wurzelfasern, die sich wie
Spinnennetze miteinander verflochten. Und sie alle strahlten eine
starke Fantasie aus, waren voll geballter Emotionen und pulsierten
vor Leben, und sie mündeten alle in einen kugeligen Wurzelstock
von beachtlicher Größe in der Mitte des Gewölbes.
Das bin ich, wisperte Mom.
Poe war enttäuscht. Er hatte gehofft, einen großen,
weißen Vogel zu sehen. Einen Albatros.
Dennoch tastete er sich durch das Wurzelgeflecht bis zu dem
kugelförmigen Stock durch. Als er ganz nahe war, entdeckte er
darunter eine Art Skelett, das aus einem ihm unbekannten Material
bestand. Es war nicht Holz, nicht Pflanzenfaser, weder Fels noch
Erde, zwar so hart wie Horn oder Knochen, aber auch keines von
beidem. Und es war auch kein Skelett, sondern eine glatte,
kugelförmig gewölbte Hülle mit Löchern darin, die
Moms Wurzeln vermutlich gebrochen hatten, um ins Innere einzudringen.
Poe
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