PR2603-Die instabile Welt
hörte Neroverde die nur zu gut bekannte Stimme Pic Lershimons aus dem Ärztezimmer dringen. »Möchte sich das junge Gör bei mir entschuldigen? Liefert es mir als Versöhnungsgeschenk einen Todringer, den ich für meine Untersuchungen nutzen kann?«
Seufzend drehte sie sich dem Arzt zu. »Schläfst du denn niemals?«
»Keine Zeit. Patienten bedürfen meiner Aufmerksamkeit.« Er sah sie prüfend an. »Die Station füllt sich allmählich wieder. Die Leute kommen mit psychischen Problemchen zu mir. Es geht ihnen zu gut. Sie haben viel zu viel Zeit, um über ihre Situation nachzudenken – und sie kommen drauf, dass sie bis zum Hals im Dreck stecken.«
»Mir scheint, dass du dich darüber freust?«
»Ich interessiere mich für einige Aspekte in der Psyche Humanoider.« Er beugte sich zu ihr hinab. »Fühlst du dich ebenfalls niedergeschlagen? Verzweifelt? Ist da das Gefühl der Hoffnungslosigkeit? Möchtest du am liebsten nach deiner Mami schreien?«
»Schreien möchte ich schon, aber aus ganz anderen Gründen. – Doch genug der Höflichkeiten: Wie geht es Lor-Eli?«
»Unverändert schlecht.« Pic Lershimon zeigte keinerlei Gefühlsregung.
»Awkurow meinte, dass sein Freund helfen könnte.«
»Ach ja?« Der Ara lachte freudlos. »Wie denn? Kennt er einen kleinen Hokuspokus? Existiert auf Orontes eine Ausbildungsstätte für angehende Wunderheiler? Weiß dieser Freund mehr über Leben und Tod als ich, ein Mantar-Heiler?«
»Retepko kann helfen«, sagte Awkurow. »Lass uns zu der kleinen Menschin vor und gib uns ein wenig Zeit.«
»Und wie will Retepko das anstellen, wenn ich fragen darf?«
»Er verfügt über eine Verschmähte Gabe, die wir Dämpfung nennen. Sie gestattet es ihm, im Radius weniger Meter hyperenergetische Einflüsse zu reduzieren. Er könnte die Belastung durch das Paraflimmern herabsetzen – und du deiner eigentlichen Aufgabe als Heiler nachkommen.«
Awkurow überraschte Neroverde immer wieder. Während der Reise zur Stadt der Todringer und wieder zurück hatte er sich standhaft geweigert, über die Parabegabung Retepkos auch nur ein Wort zu verlieren. Und nun erzählte er Pic Lershimon freiheraus, wie er meinte, Lor-Elis Rettung bewerkstelligen zu können.
»Das hört sich schwammig bis nichtssagend an.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht bereit, einen eingeborenen Quacksalber an meine Patientin zu lassen.«
Neroverde zählte langsam bis zehn. »Wir sind nicht auf dich angewiesen«, sagte sie und schluckte ihren Zorn. »Wir werden uns an Tres wenden und sie bitten, uns Zutritt zu ihrer Schwester zu gewähren.«
»Ach ja? Vergaß ich zu erwähnen, dass Tres derzeit nicht ansprechbar ist? Sie war völlig erschöpft. Krank vor Kummer, wie man so schön sagt. Ich musste sie in Heilschlaf versetzen, der wohl noch einige Stunden anhalten wird. In der Zwischenzeit vertrete ich Lor-Elis Agenden. Gemäß Bordrecht ...«
Heatha Neroverde hörte wie betäubt zu, war völlig erschöpft, ihre Nerven bis aufs Äußerste angespannt.
Sie atmete tief durch, während der Bordarzt in seiner Litanei fortfuhr. Sie erinnerte sich der Mantras, die ihr geholfen hatten, all die drögen Theorie-Einheiten ihrer Ausbilderin Dubb bei gesundem Geist zu überstehen.
Als Pic Lershimon endlich einmal Luft holte, sagte sie schnell: »Hör mir bitte zu, Mantar-Heiler: Awkurow und ich haben einige Anstrengungen auf uns genommen, um Retepko hierher zu schaffen. Wir hatten dabei, wie du, ein einziges Ziel vor Augen: Wir wollen, dass Lor-Eli wieder gesundet. Ich bin nicht hier, um mit dir über Paragrafen zu streiten und darüber zu diskutieren, wer recht hat. Alles, was ich von dir verlange, ist, dass du uns eine Chance gibst. Dass wir nach dem letzten verfügbaren Strohhalm greifen, um das Mädchen zu retten. Und dass du uns dabei zur Seite stehst.«
Neroverde legte sich ihre Worte sorgfältig zurecht, bevor sie fortfuhr: »Du musst zugeben, dass du mit deinen Heilkünsten an eine Grenze gestoßen bist. Nun erhalten wir womöglich mit Retepkos Hilfe die Gelegenheit, in unbekannte Bereiche vorzustoßen. Um Lor-Eli zu helfen. – Möchtest du nicht als jener Ara in die Geschichte eingehen, der ein Wunder bewirkt hat ...?«
»Ich bewirke ständig Wunder«, sagte Pic Lershimon, und es klang wie selbstverständlich.
»... als jener Ara, der all seine Konventionen über Bord geworfen und einen neuen Zugang zur Medizin gefunden hat?«
Der Mantar-Heiler starrte an ihnen vorbei. Betrachtete dann die beiden
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