Price, Richard
zwei Wochen
immer noch keine Anstellung hatte, ging er zu diesem Moskowitz, um mit ihm zu
reden, fragte ihn mit dem Hut in der Hand: Warum nehmen Sie meiner Familie das
Essen aus dem Mund? Was hab ich denn getan? Es waren zwei Küken, kleine Küken
für meine Tochter, ich werde dafür bezahlen, bitte, MrMoskowitz.< Und Moskowitz wollte ihn nicht mal
anschauen, er sagte nur ... >Raus hier, Marx, du bist ein Dieb, ein Ganove,
du bist erledigt<, und mein Großvater fing an zu betteln ... er bettelte in
dieser riesigen, hangargroßen Hühnerhalle vor all diesen Leuten um sich herum:
>Bitte, Mister Moskowitz, ich schwör's, bitte, es kommt nie mehr vor<,
und dann fing er an, vor seinen Augen zu weinen ... Und dann, denke ich, sind
ihm die Nerven durchgegangen, er ging auf den Kerl los und drückte ihm die
Hälfte der Rippen ein, und dann holten ihn die farbigen Jungs da raus. Und ich
denke, das war die wahre Geschichte, ich mein, ich bin Detective, richtig? Ich
sollte Wahrheit von Lüge unterscheiden können, wenn ich sie höre, richtig?
Aber in der Familie, die man nun mal hat, da braucht die Wahrheit eine Weile,
um ans Licht zu kommen.«
Rocco nickte vor sich hin. »Aber noch eins, wisst ihr,
worauf er immer stolz war? Er sagte stets: >Ganz gleich, was passiert, ich
bringe immer das Essen auf den Tisch, in guten wie in schlechten Zeiten<,
und immer gab es was zu essen.«
Rocco sah auf, während ihm alle in höflicher Zustimmung
zunickten.
Patty brachte das Dessert: Papayascheiben in
Schokolade, während die Gäste sie hochleben ließen, und dann fing eine der
Frauen am Tisch an, von ihrem Job als Kellnerin zu erzählen, wie dumm sie sich
dabei anstelle, aber trotzdem darüber lachen würde. Sie war erst einundzwanzig
und in Wirklichkeit Malerin, und sie hatte den Job nur, um über die Runden zu
kommen. Rocco konnte hören, wie egal ihr der Job war, und er spürte, wie er ihr
Leben und ihre Annahme, dass sie in den vor ihr liegenden Jahren eine unendliche
Zahl von Rollen spielen könne, verachtete.
Rocco zog sich wieder zurück, dachte über die letzte
lange, schmerzvolle Unterhaltung mit seinem Großvater nach und darüber, dass
sein Großvater die Wahrheit erst im Angesicht des Todes erzählt hatte.
Rocco war mit den Geschichten seines Großvaters aufgewachsen, und alle hatten
sie von trotzigen Erklärungen und erfolgreichen Showdowns gehandelt - Sonny
Marx lässt sich hier keinen Scheiß gefallen, Sonny Marx lässt sich dort keinen
Scheiß gefallen. Doch Rocco hatte an jenem Tag das Krankenhaus verlassen und
über den Mann gegrübelt, der sich Küken eingesteckt und Moskowitz angebettelt
hatte, seinen Job zurückzubekommen. Er war zu dem Schluss gelangt, dass
wahrscheinlich all diese Geschichten völliger Mist waren und dass die
wichtigsten Momente im Leben dieses Mannes mit ziemlicher Sicherheit nur aus
Erniedrigungen bestanden hatten.
Erin fing
an, hinter der Trennwand zu weinen - ein zögerndes, schlaftrunkenes Krächzen -,
und Rocco fuhr hoch. »Ich hol sie.« Er streckte eine Hand abwehrend nach Patty
aus, griff sich den Wodka vom Sideboard und verschwand hinter der Schiebewand.
Erin hatte
sich aufgesetzt, sah aus, als sei sie gerade aus dem Ei geschlüpft, blinzelte
und runzelte die Stirn auf dem Weg zurück in den Schlaf. Rocco hob sie dennoch
aus ihrem Bettchen und trug sie in das kleine Gästezimmer, damit sie sich
gemeinsam hinlegen konnten. Er schloss die Augen und ließ die Gedanken
schweifen, nahm ab und an einen Schluck, und er hörte, wie die Unterhaltung draußen
an der Tafel den beruhigenden Rhythmus eines von allen genossenen schönen
Abends annahm. Gutes Essen, gute Unterhaltung. Gut. Fröhlichen Hochzeitstag.
Zur Feier
des Tages hatte Rocco Patty eine lederne Umhängetasche für dreihundert Dollar
gekauft, die er in einem der Schaufenster von Crouch and Fitzgerald gesehen
hatte. Sie glich der, die Sean Touhey mit sich herumgetragen hatte, und sie
hatte Rocco einen halben Nettowochenlohn gekostet. Patty dagegen hatte ihm
nicht das kleinste Geschenk gemacht: Sie wusste nicht, dass man sich an einem
Hochzeitstag Geschenke macht. Nun, vielleicht wirklich nicht, woher sollte er
das wissen? Rocco lag da und bedauerte sich selbst, grübelte darüber nach, dass
er sich wie ein Zwölfjähriger benahm, wenn er mit einer Gruppe von Fünfundzwanzigjährigen zusammen
war; wenn er arbeitete, war er ein anderer Mensch, ausgewogen und ganz und gar
nicht schüchtern, ein Mensch, dessen tief verborgene
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